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Full text of "Gilgamesch; eine Erzählung aus dem alten Orient, zu einem Ganzen gestaltet"

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GILGAMESCH 

Eine  Erzählung 
aus  dem   alten   Orient 


Zu  einem  Ganzen  gestaltet 

von 

Georg  E.  Burckhardt 


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Im    Insel-Verlag    zu    Leipzig 


ai.— 3o,  Tausend 


Die  erste  Tafel 

Alles  sah  er,  der  Herr  des  Landes.  Jeden  lernte  er 
L  kennen  und  eines  jeden  Können  und  Werk,  alles 
verstand  er.  Er  durchschaute  der  Leute  Leben  und 
Treiben. 

Er  brachte  geheime,  verborgene  Dinge  ans  Licht. 
Der  Weisheit  Abgrundtiefe  ward  ihm  offenbar.  Aus 
der  Zeit  vor  der  großen  Sturmflut  brachte  er  Kunde. 
Einen  weiten  Weg  in  die  Ferne  ging  er.  Leidensvoll 
war  die  lange  Wandrung  und  beschwerlich  die  Fahrt. 

In  Keilen  Heß  schreiben  der  Dulder  die  ganze  Müh- 
sal. In  harten  Stein  wurden  Taten  und  Leiden  alle  ge- 
meißelt. 

Gilgamesch,  der  siegreiche  Held,  baute  die  Mauer 
um  Uruk.  Hoch  wie  ein  Berg  erhebt  sich  der  heilige 
Tempel  in  der  umfriedigten  Stadt.  Fest  wie  Erz  liegt 
der  aufgeschüttete  Grund.  Unter  dem  Schutz  des  er- 
habenen Hauses,  in  dem  der  Himmelsgott  wohnt,  dehnt 
sich  weit  der  Kornspeicher  der  Stadt,  das  prächtige 
Vorratshaus.  Leuchtend  weiß  erstrahlt  des  Königs 
Palast  im  Licht.  Späher  stehen  den  ganzen  Tag  auf  der 
Mauer,  auch  des  Nachts  wachen  die  Mannen. 

Ein  Drittel  ist  Mensch  in  Gilgamesch,  zwei  Drittel  ist 
Gott.  Voll  Staunen  und  Furcht  schauen  die  Bürger 
das  Bild  seines  Leibes,  nie  seinesgleichen  sah  man  an 
Schönheit  und  Fülle  der  Kraft.  Den  Löwen  scheucht 
er  aus  seinem  Versteck,  packt  ihn  am  Bart  und  ersticht 
ihn.  Den  Wildstier  erjagt  er  mit  seines  Bogens  Schnelle 
und  Wucht»  In  der  Stadt  ist  sein  Wort  und  Spruch 
das  Gesetz.  Mehr  als  des  Vaters  Wunsch  gilt  für  dtn 

203  o 


Sohn  der  Wille  des  Königs.  Kaum  ist  der  Sohn  ein 
Mann,  so  steht  er  im  Dienste  des  großen  Hirten,  als 
Krieger  und  Jäger,  Hüter  der  Herden,  Bauaufseher  und 
Schreiber,  oder  als  Diener  des  heiligen  Tempels. 

Gilgamesch  ist  nicht  müde,  der  Weh-Froh-Mensch. 
Arbeiten  müssen  für  ihn,  den  Starken,  Herrlichen,  Weis- 
heitskundigen, jung  und  alt,  die  Gewaltigen  und  die 
Geringen.  Uruks  Pracht  soll  strahlen  vor  allen  Städten 
der  Länder. 

Gilgamesch  läßt  nicht  die  Buhle  zu  ihrem  Geliebten, 
nicht  die  Tochter  eines  Gewaltigen  zu  ihrem  Helden. 
Ihr  Wehklagen  stieg  empor  zu  den  großen  Göttern, 
den  Göttern  des  Himmels,  den  Herren  des  heiligen 
Uruk: 

„Ihr  habt  geschaffen  den  mächtigen  Wildstier  und 
den  bärtigen  Löwen;  Gilgamesch,  unser  Fürst,  ist  stär- 
ker als  sie.  Seinesgleichen  findet  ihr  nicht,  allzu  stark 
ist  er  über  uns.  Nicht  läßt  er  die  Buhle  zu  ihrem  Ge- 
liebten, nicht  die  Tochter  des  Helden  zu  ihrem  Manne." 

Ihr  Klagen  hörte  der  Himmelsgott  Anu.  Er  rief 
Aruru,  die  große,  des  Formens  kundige  Göttin: 

„Du,  Aruru,  hast  Menschen  und  Tiere  geschaffen, 
gemeinsam  mit  Marduk,  dem  Helden.  Schaff  nun  ein 
Bild,  das  dem  Gilgamesch  gleich  sei,  ein  Wesen,  das 
stark  sei  wie  er,  doch  nicht  nur  ein  Tier  der  Wüste. 
Zu  seiner  Zeit  soll  dieser  Gewaltige  kommen  nach  Uruk.. 
Wetteifern  soll  er  mit  Gilgamesch;  Ruhe  habe  dann 
Uruk!" 

Als  Aruru  dies  hörte,  schuf  sie  in  ihren  Gedanken 
ein  Wesen,  wie  der  Himmelsgott  Anu  es  wünschte.  Sie 
wusch  sich  die  Hände,  kniff  Lehm  ab  und  feuchtete 
ihn  mit  muttergöttlichem  Speichel.  Sie  formte  Enkidu, 


schuf  einen  Helden,  belebt  vom  Hauch  und  Blut  des 
streitbaren  Kriegsgottes  Ninib. 

Nun  steht  er  da,  am  ganzen  Körper  behaart,  allein 
in  der  Steppe.  Wie  beim  Weibe  wallt  sein  Haupthaar 
herab.  Wie  Weizen  streckt  sich  sein  Haar.  ^Uchtsweiß 
er  von  Land  und  Leuten.  Mit  Fellen  ist  er  bekleidet 
wie  Sumukan,  der  Gott  der  Fluren  und  Herden.  Mit 
den  Gazellen  zusammen  ißt  er  die  Kräuter  des  Feldes. 
Mit  dem  Vieh  trinkt  er  an  der  gemeinsamen  Tränke. 
Mit  dem  Gewimmel  des  W^assers  tummelt  er  sich  in 
der  Flut. 

Fangnetze  hatte  ein  Jäger  gelegt  an  selbiger  Tränke. 
Enkidu  stellt  sich  entgegen  dem  Mann  (er  kommt  zu 
tränken  sein  Vieh).  Einen  Tag,  einen  zweiten  und 
dritten  Tag  steht  drohend  Enkidu  da,  vor  der  Tränke. 
Es  sieht  ihn  der  Jäger;  lang  starrt  sein  Gesicht.  Er 
zieht  ab  mit  dem  Vieh  zurück  ins  Gehöft.  Zornig  wird 
er,  verstört  und  finstern  Blickes  schreit  er  vor  Wut. 
Weh  erfaßte  sein  Herz,  denn  er  fürchtete  sich:  jener 
sah  aus  wie  ein  Unhold  der  Berge! 
Der  Jäger  erhebt  seine  Stimme  und  sagt  seinem  Vater : 
„Vater,  ein  Mann  ist  fernher  vom  Gebirge  gekom- 
men, wie  Anus  Sproß  sieht  er  aus.  Gewaltig  ist  seine 
Kraft,  er  treibt  sich  herum  auf  der  Steppe  beständig. 
Mit  den  Tieren  zusammen  steht  er  an  unserer  Tränke. 
Furchtbar  ist  seine  Gestalt,  ich  mag  ihm  nicht  nahen. 
Verschüttet  hat  er  die  Fanggrube,  die  ich  gegraben, 
zerstört  die  Fallen,  die  ich  gelegt.  So  ließ  er  entkom- 
men all  das  Getier  des  Feldes  aus  meinen  Händen." 
Der  Vater  sagt  zum  Sohne,  dem  Jäger: 
„Geh  nach  Uruk  hinein  zu  Gilgamesch.  Sprich  von 
der  unbezähmbaren  Kraft  des  wilden  Gesellen.  Erbitte 


dir  ein  blühendes  Weib,  das  sich  Ischtar,  der  Liebes- 
göttin,  geweiht,  und  führe  sie  mit  dir  hinaus.  Zieht  das 
Vieh  zur  Tränke,  so  werfe  sie  ab  ihr  Gewand,  damit 
ihre  Fülle  er  nehme.  Wird  er  sie  sehen,  so  wird  er  ihr 
nahen.  Also  wird  er  entfremdet  werden  dem  Vieh,  das 
mit  ihm  wuchs  auf  dem  Felde." 

Der  Jäger  hörte  das  Wort  des  Vaters  und  ging  davon. 
Er  machte  sich  auf  den  Weg  nach  Uruk,  trat  zum  Tore 
hinein,  kam  zur  Pforte  des  Königs  und  fiel  vor  ihm 
nieder.  Dann  erhob  er  die  Hand  und  sprach  zu  Gilga- 
mesch  also: 

„Ein  Mann  ist  fern  vom  Gebirge  gekommen,  seine 
Kräfte  sind  stark  wie  die  Heerschar  des  himmlischen 
Gottes.  Seine  Macht  ist  groß  in  der  ganzen  Steppe,  er 
treibt  sich  umher  auf  dem  Felde  beständig.  Seine  Füße 
sind  stets  mit  dem  Vieh  vor  der  Tränke.  Furchtbar  ist 
er  zu  schauen,  ich  mag  ihm  nicht  nahen.  Er  hindert 
mich.  Gruben  zu  graben,  Netze  zu  legen.  Fallen  zu 
stellen.  Gefüllt  hat  er  meine  Grube,  zerrissen  die  Netze, 
zerstört  meine  Fallen.  Meinen  Händen  läßt  er  entkom- 
men das  Tier  meines  Feldes." 

Gilgamesch  sagte  zu  ihm,  dem  Jäger: 

„Geh  nur,  mein  Jäger,  nimm  mit  dir  ein  blühendes 
Weib  aus  Ischtars  heiligem  Tempel.  Führe  sie  hin  zu 
ihm.  Wenn  er  kommt  mit  den  Tieren  zur  Tränke, 
werfe  sie  ab  ihr  Gewand,  damit  ihre  Fülle  er  nehme. 
Wird  er  sie  sehen,  so  wird  er  ihr  nahen.  Also  wird  er 
entfremdet  werden  dem  Vieh,  das  mit  ihm  wuchs  auf 
dem  Felde." 

Sein  Wort  vernahm  der  Jäger  und  ging.  Er  holte 
ein  blühendes  Weib  aus  dem  Tempel  der  Ischtar.  Sie 
machten  sich  auf  den  Weg  und  trieben  das  Maultier 


die  kürzeste  Strecke.  Am  dritten  Tage  kamen  sie  an 
und  fanden  sich  ein  auf  dem  Feld  der  Bestimmung. 
Jäger  und  Weib  lassen  sich  nieder  nicht  fern  von  der 
Tränke.  Einen  Tag,  einen  zweiten  Tag  lagerten  sie  an 
selbiger  Stelle.  Es  kommt  das  Vieh  und  trinkt  an  der 
Tränke. .  Die  Wassertiere  tummeln  sich  in  der  Flut.  Da 
ist  auch  er,  Enkidu,  des  himmlischen  Gottes  gewaltiger 
Sproß.  Mit  den  Gazellen  ißt  er  die  Kräuter,  mit  dem 
Vieh  schlürft  er  gemeinsam  das  Wasser.  Munter  tum- 
melt er  sich  mit  dem  Gewimmel  der  Flut. 

Es  sah  ihn  das  heilige  Weib,  den  Menschen  voll 
Kraft,  den  wilden  Gesellen,  den  Mann  vom  Gebirge. 
Er  schreitet  über  das  Feld,  spähet  umher,  kommt  näher. 

„Da  ist  er,  Weib!  Löse  das  Tuch  deines  Busens, 
enthülle  den  Hügel  der  Freude,  damit  deine  Fülle  er 
nehme!  Warte  nicht  länger,  nimm  wahr  seine  Lust! 
Wird  er  dich  sehen,  so  wird  er  dir  nahen.  Begierde 
errege  in  ihm,  lock  ihn  ins  Fangwerk  des  Weibes! 
Fremd  wird  ihm  werden  sein  Vieh,  das  mit  ihm  wuchs 
auf  dem  Felde.  Seine  Brust  wird  fest  auf  dir  ruhen." 

Da  löste  das  Weib  das  Tuch  ihres  Busens,  enthüllte 
den  Hügel  der  Freude,  damit  ihre  Fülle  er  nehme.  Sie 
zögerte  nicht,  nahm  wahr  seine  Lust.  Hin  sank  das  Ge- 
wand, er  sah  sie  und  warf  sie  zu  Boden.  Begierde  er- 
regte sie  ihm,  das  Fangwerk  des  Weibes.  Fest  ruht 
seine  Brust  auf  der  heiligen  Dienerin  Gottes. 

Sie  waren  allein.  Sechs  Tage  und  sieben  Nächte 
erkannte  Enkidu  das  Weib,  vereinte  sich  ihr  in  der 
Liebe. 

Von  ihrer  Schönheit  Fülle  gesättigt,  erhob  Enkidu 
sein  Antlitz  und  blickte  umher  auf  der  Steppe.  Er  späht 
nach  den  Tieren.  Kaum  sehen  sie  ihn,  da  jagen  im 


Sprung  die  Gazellen  davon.  Die  Tiere  des  Feldes 
scheuen  vor  ihm  zurück. 

Staunen  ergriff  Enkidu.  Still  stand  er  wie  angebun- 
den. Er  wendet  sich  um  zum  Weibe  und  setzt  sich  zu 
ihren  Füßen.  Er  blickt  ihr  ins  Auge,  und  wie  sie  nun 
spricht,  da  horchen  auf  seine  Ohren: 

„Enkidu,  schön  bist  du,  wie  ein  Gott  bist  du !  Warum 
willst  du  mit  wildem  Getier  hinjagen  über  die  Felder? 
Komm  mit  mir  nach  Uruk,  in  die  umfriedigte  Stadt. 
Komm  zum  heiligen  Tempel,  der  Wohnung  Anus  und 
Ischtars!  Komm  zu  dem  strahlenden  Hause,  wo  Gilga- 
mesch  wohnt,  der  vollkommene  Held.  Wie  ein  Wild- 
stier an  Kraft  waltet  er  mächtig;  nicht  seinesgleichen 
findest  du  unter  dem  Volk." 

Also  sagt  sie,  und  er  freut  sich,  solches  zu  hören. 
Enkidu  spricht  zu  ihr,  der  Dienerin  Ischtars: 

„Auf,  mein  Weib !  Führe  mich  hin  zur  heiligen  Woh- 
nung Anus  und  Ischtars,  dahin,  wo  Gilgamesch  weilt, 
der  vollkommene  Held,  wo  er  waltet,  ein  Wildstier, 
gewaltig  unter  den  Männern!  Zum  Kampfe  will  ich 
ihn  fordern,  mit  lauter  Stimme  will  ich  den  Starken 
rufen,  ich  werde  verkünden  mitten  in  Uruk:  ,Ich 
selbst  bin  ein  Starker!'  So  tret  ich  hinein  und  andre 
das  Schicksal;  ich  bin  auf  der  Steppe  geboren,  Kraft 
ist  in  meinen  Gliedern!  Mit  eignen  Augen  sollst 
du  schaun,  was  ich  tue;  wie  alles  kommen  wird, 
weiß  ich." 

Das  Weib  und  Enkidu  gehen  zur  Stadt  und  schreiten 
durchs  Tor.  Bunte  Teppiche  sind  auf  den  Straßen  ge- 
breitet. In  weißen  Kleidern,  die  Binde  ums  Haupt, 
gehen  die  Menschen  einher.  Harfen  klingen  von  ferne, 

8 


es  tönen  die  Flöten.  Ein  Fest  wird  gefeiert  bei  Tag 
und  bei  Nacht.  Schön  gestaltete  Mädchen  tanzen  vor- 
bei, Fülle  des  Lebens  in  allen  Gliedern.  Jauchzend 
stören  sie  auf  die  Helden  aus  ihrem  Gemach. 

Das  heilige  Weib  schreitet  voran  in  den  Tempel  der 
Ischtar.  Aus  der  Kammer  des  Heiligtums  nimmt  sie  ein 
Festgewand.  Sie  schmückt  mit  dem  prächtigen  Kleid 
Enkidu,  stärkt  ihn  mit  Brot  und  Wein  vom  Altare  der 
Göttin.  Eine  Geweihte  naht,  eine  Seherin,  und  spricht 
zu  ihm  also: 

„Enkidu,  die  großen  Götter  mögen  dir  langes  Leben 
verleihen!  Den  Weh-Froh-Menschen  Gilgamesch  will 
ich  dir  zeigen:  du  sollst  ihn  erblicken  und  schaun  sein 
Gesicht:  wie  die  Sonne  erstrahlt  sein  Auge.  Von 
Muskeln  hart  wie  Erz  strotzt  seine  hohe  Gestalt.  Sein 
Leib  hält  gebändigt  die  überschüssige  Kraft.  Nicht  ist 
er  müde  bei  Tag  und  bei  Nacht.  Furcht  erregt  er  wie 
Adad,  der  Gott  des  Gewitters.  Schamasch,  der  Sonnen- 
gott, ist  dem  Gilgamesch  gnädig,  Ea,  der  Gott  der  Tiefe, 
machte  ihn  klug.  Die  göttliche  Dreiheit  erkor  ihn  zum 
Herrscher  und  machte  hell  seinen  Sinn.  Ehe  du  kamst 
vom  Gebirge  herab  und  hervor  aus  der  Steppe,  ahnte 
dich  Gilgamesch  schon.  Ein  Traumbild  ward  ihm  in 
Uruk.  Er  erhob  sich  vom  Schlaf,  erzählte  den  Traum 
und  sprach  zu  der  Mutter: 

,Mutter,  in  dieser  Nacht  schaute  ich  seltsamen 
Traum.  Die  Sterne  standen  am  Himmel.  Da  fielen 
Sterne  wie  blinkende  Krieger  auf  mich  herab.  Die 
Heerschar  war  wie  ein  Mann;  ich  suchte  ihn  hochzu- 
heben, doch  er  war  mir  zu  schwer.  Ich  suchte  ihn  los- 
zureißen, doch  könnt  ich  ihn  nicht  bewegen.  Die  Völ- 
ker von  Uruk  standen  davor  und  sahen  das  Schauspiel. 


Die  Leute  beugten  sich  hin  zu  ihm  und  küßten  ihm 
seine  Füße.  Da  preßte  ich  ihn  wie  ein  Weib,  bracht 
ihn  herum,  daß  ich  über  ihm  lag,  und  warf  ihn  zu  deinen 
Füßen.  Du  nahmst  ihn  zum  Sohn  und  stelltest  ihn  mir 
als  Bruder  zur  Seite.* 

Rischat,  die  Herrin  und  Mutter,  weiß  Träume  zu 
deuten  und  kündete  also  dem  Sohne,  dem  Fürsten: 

,Wenn  du  sahst  die  Sterne  am  Himmel,  wenn  eine 
Heerschar  Anus  auf  dich  herabfiel  wie  ein  Mann,  du 
ihn  zu  heben  versuchtest  -  zu  schwer  war  er  dir,  - 
du  ihn  abzuschütteln  suchtest  —  du  konntest  es  nicht, - 
dann  dich  auf  ihn  preßtest  wie  auf  ein  Weib  und  ihn 
zu  Füßen  mir  warfst,  ich  zum  Sohn  ihn  erklärte,  so 
bedeutet  dies:  Es  wird  kommen  ein  Starker;  wie  eine 
Kriegerschar  gewaltig  sind  seine  Kräfte.  Zum  Kampfe 
wird  er  dich  fordern,  ringen  mit  dir.  Deine  Hand  wird 
über  ihm  sein,  liegen  wird  er  zu  meinen  Füßen.  Ich 
nehme  ihn  an  zum  Sohne,  er  wird  dein  Bruder.  Dein 
Genosse  im  Streit,  dein  Freund  wird  er  sein.' 

Enkidu,  siehe,  das  ist  der  Traum  und  die  Deutung 
der  Herrin  und  Mutter." 

Also  sprach  die  Geweihte,  die  Seherin,  und  Enkidu 
verläßt  das  erhabene  Flaus  der  Ischtar. 

Die  zweite  Tafel    . 

U*  *  ber  die  Schwelle  des  Tempels  schreitet  Enkidu  und 
tritt  auf  die  Straße.  Staunen  ergreift  die  Menge, 
als  sie  den  Mann  der  Steppe  erblickt.  Sein  gewaltiger 
Leib  überragt  alle  Großen  der  Stadt.  Bart  und  Haupt- 
haar wallen  ihm  lang  herab.  „Ein  Held  aus  den  Bergen 
Anus  kam  in  die  Stadt!"  Den  Helden  von  Uruk  ver- 


10 


sperrt  er  den  Weg  zum  heiligen  Hause.  Gegen  ihn 
rücken  die  Mannen  (alle  sind  sie  versammelt),  doch 
sein  drohender  Blick  bannt  sie  zurück.  Vor  der  Wun- 
dererscheinung beugt  sich  das  Volk,  es  fällt  ihm  zu 
Füßen,  furchtet  sich  wie  ein  Kind. 

Dem  Gilgamesch  ist  im  Tempel  wie  einem  Gotte 
das  Teppichlager  bereitet,  daß  sich  der  König  mit 
Ischtar  selbst,  der  fruchtbaren  Göttin,  vereine.  Gilga- 
mesch kommt  aus  seinem  Palaste  und  naht.  Enkidu 
steht  an  der  hohen  Pforte  des  Tempels,  hindert,  daß 
Gilgamesch  trete  hinein.  Wie  zwei  Ringer  packen  sie 
sich  am  Tor  des  heiligen  Hauses.  Auf  der  Straße 
kämpfen  sie  weiter.  Wie  eine  Heerschar  Hegt  Enkidu 
über  dem  Hirten  des  Landes.  Da  preßt  dieser  ihn 
wie  ein  W^eib,  bringt  ihn  herum,  daß  er  über  ihm  liegt. 
Er  hebt  ihn  empor  und  wirft  ihn  vor  die  Füße  der 
Mutter.  Ehrfürchtig  staunt  das  Volk  über  des  Gilga- 
mesch Kraft. 

Enkidu  schreit  auf  in  verzweifelter  Wut.  Wirr  und 
aufgelöst  ist  das  Haar  des  mächtigen  Hauptes.  (Er 
kam  von  der  Steppe,  so  kannte  er  weder  Schere  noch 
Schabe.)  Enkidu  richtet  sich  auf,  erblickt  seinen  Geg- 
ner. Finster  wird  sein  Gesicht  und  düster  sein  Antlitz. 
Die  Hände  sinken  an  den  ermatteten  Hüften:  Tränen 
erfüllen  sein  Auge. 

Rischat,  die  Mutter  und  Herrin,  ergreift  seine 
Hände: 

„Du  bist  mein  Sohn,  heute  habe  ich  dich  geboren. 
Deine  Mutter  bin  ich,  und  dieser  da  ist  dein  Bruder." 

Enkidu  tat  seinen  Mund  auf  und  spricht  zu  Rischat, 
der  Herrin: 

„Mutter,  ich  habe  im  Kampfe  den  Bruder  gefunden." 

II 


Gilgamcsch  sagt  zu  ihm: 

„Du  bist  mein  Freund.  Nun  streite  an  meiner  Seite !" 

Um  die  Zedern  im  fernen  Walde  der  Götter  zu 
scliützen,  hatte  der  Bei  einen  Wächter  gesetzt  zum 
Schrecken  der  Leute:  Chumbaba,  -  seine  Stimme  ist 
gleich  dem  heulenden  Sturme,  sein  Mund  läßt  die 
Bäume  rauschen,  furchtbar  ertönt  sein  Schnauben.  Ein 
jeder,  der  hingeht  zum  Zederngebirge,  fürchtet  den 
grimmigen  Hüter  des  Waldes.  Wer  immer  dem  hei- 
ligen Forste  naht,  zittert  am  ganzen  Leibe. 

Gilgamesch  sprach  zu  Enkidu: 

„Chumbaba,  der  Hüter  des  Zedernwaldes,  frevelte  ge- 
gen Schamasch,  den  Richter  der  Geister  und  Menschen. 
Zum  Wächter  der  heiligen  Zeder  bestellt,  achtet  er  keine 
Grenze,  kommt  aus  dem  Walde  hervor  zum  Schrecken 
der  Leute.  Wie  der  heulende  Sturm  läßt  er  die  Bäume 
rauschen.  Jeden  erschlägt  er,  der  immer  dem  Walde 
naht.  Auch  den  Starken  wirft  seine  Hand  zu  Boden. 
Mein  Herz  verlangt,  den  Schrecklichen  aufzusuchen 
und  zu  bezwingen.  Freund,  wir  wollen  nicht  müßig 
ruhen  in  Uruk,  nicht  Kinder  zeugen  in  Ischtars  Tempel, 
wir  wollen  zu  Abenteuern  und  Heldentaten  hinausgehn. 
Mit  dir  jage  ich  wieder  hinaus  in  die  Steppe." 

Enkidu  spricht  zum  Freunde,  zu  Gilgamesch: 

„Furchtbar  scheint  Chumbaba  zu  sein,  zu  dem  wir 
gehen.  Chumbaba,  sagst  du,  ist  von  gewaltiger  Kraft. 
Und  wir  sollen  ziehen  und  gegen  ihn  streiten?" 

Gilgamesch  spricht  zu  ihm,  zu  Enkidu: 

„Freund,  zusammen  gehen  wir  zu  der  heiligen  Zeder, 
zusammen  streiten  wir  gegen  Chumbaba  und  erschla- 
gen den  Feind  der  Götter  und  Menschen!" 

13 


Die  dritte  Tafel 

Enkidu  zieht  ein  in  die  glänzende  Halle  des  Königs. 
Sein  Herz  ist  bedrängt  und  flattert  wie  ein  Vogel 
des  Himmels.  Nach  der  Steppe  verlangt  er  und  nach 
den  Tieren  des  Feldes.  Laut  klagt  er  sein  Leid  und  läßt 
sich  nicht  halten,  eilt  wieder  hinaus  aus  der  Stadt  in 
die  Wildnis. 

Gilgamesch  ist  betrübt;  der  Freund  ging  hinweg. 
Gilgamesch  macht  sich  auf,  versammelt  des  Volkes 
Älteste,  erhebt  seine  Hand  und  spricht  zu  den  Edlen: 

„Hört  nur,  ihr  Männer,  und  richtet  die  Augen  auf 
mich!  Ich,  ich  trage  Leid  um  Enkidu,  ich,  ich  weine 
Enkidus  wegen.  Wie  ein  Klageweib  erhebe  ich  laut 
die  trauernde  Stimme.  Die  Streitaxt  an  meiner  Seite, 
das  Wurfholz  in  meiner  Hand,  das  Schwert  im  Gürtel, 
der  Augen  Freude,  das  Festgewand,  das  die  Fülle  der 
Kraft  mir  umwallt,  -  was  soll  es  mir?  Ein  Dämon  hat 
sich  erhoben  und  alle  Freude  vergällt.  Fort  ist  Enkidu, 
mein  Freund;  draußen  ist  er  unter  den  Tieren  des 
Feldes.  Er  verwünscht  das  heilige  Weib,  das  ihn  ver- 
führte, und  fleht  zum  Sonnengotte  Schamasch.  Auf 
bunten  Teppichen  sollte  er  ruhen,  wohnen  in  einem 
Palast  mir  zur  Linken.  Die  Großen  der  Erde  sollten  die 
Füße  ihm  küssen,  alle  Menschen  sollten  ihm  dienen.  Das 
ganze  Volk  will  ich  trauern  lassen  um  ihn.  Trauerkleider, 
zerrissen,  bestaubt,  sollen  die  Leute  tragen.  Mit  dem 
Löwenfelle  bekleidet,  werde  ich  jagen  über  das  Feld, 
in  die  Steppe  hinaus,  ihn  zu  suchen." 

Enkidu  steht  mit  erhobener  Hand  allein  in  der  Steppe. 
Er  verwünscht  den  Jäger,  fleht  zu  Schamasch  und  ruft; 

13 


„Schamasch,  richte  des  Jägers  verruchte  Tat!  Seinen 
Reichtum  vernichte,  nimm  weg  seine  Manneskraft! 
Alle  Dämonen  mögen  ihn  quälen,  Schlangen  mögen 
vor  seinem  furchtsamen  Tritte  hervorgehn!" 

Also  verwünscht  er  den  Jäger;  es  quillt  sein  Wort 
aus  der  Fülle  des  Herzens.  Dann  treibt  es  ihn,  das  ver- 
lockende Weib  zu  verfluchen: 

„Ich  will  dir,  Weib,  dein  Schicksal  bestimmen,  es 
soll  kein  Ende  nehmen  all  deine  Lebenstage.  Meine 
Verwünschungen  sollen  stehn  über  deinem  Haupte! 
Die  Straße  sei  deine  Wohnung,  hausen  sollst  du  im 
Winkel  der  Mauer.  Immer  seien  müde  und  wund  dir 
die  Füße.  Bettler,  verworfene,  ausgestoßene  Leute 
werden  auf  deine  Wangen  dich  schlagen.  -  Hunger 
leide  ich  nun,  und  Durst  peinigt  mich.  Weil  du  die 
Lust  in  mir  wecktest,  wollte  ich  wissen  und  wurde 
entfremdet  den  Tieren.  Weil  du  mich  von  meinem 
Felde  führtest  hinweg  in  die  Stadt,  darum  seist  du  ver- 
flucht!" 

Das  Wort  seines  Mundes  hörte  Schamasch,  der  Gott 
der  glühenden  Sonne  des  Mittags. 

„Enkidu,  Panther  der  Steppe,  warum  verfluchst  du 
das  heilige  Weib  ?  Sie  gab  dir  Speise  vom  Tisch  der 
Göttin,  wie  nur  der  Gott  sie  bekommt,  sie  gab  dir 
Wein  zu  trinken,  wie  nur  der  König  bekommt.  Sie 
gab  dir  das  Festgewand  und  den  Gürtel.  Den  herr- 
lichen Gilgamesch  verschaffte  sie  dir  zum  Freund.  Der 
große  Gilgamesch  ist  dein  Freund!  Auf  bunten  Tep- 
pichen läßt  er  dich  ruhen,  du  sollst  zur  Linken  ihm 
wohnen  im  strahlenden  Hause.  Dir  küssen  die  Füße 
die  Großen  des  Landes,  alle  Männer  läßt  er  dir  dienen. 
In  Uruk,  der  Stadt,  trauern  die  Leute  um  dich;  zer- 

M 


rissene  Kleider,  mit  Staub  bedeckt,  tragen  die  Men- 
schen. Gilgamesch  wirft  sich  das  Löwenfell  um  und 
eilt  dahin  über  das  Feld.  Er  kommt  in  die  Steppe  hin- 
aus, dich  zu  suchen." 

Enkidu  hörte  das  Wort  des  starken  Gottes  Scha- 
masch. Vor  dem  Herrn  seinem  Gott  beruhigte  er  sein 
Herz. 

Eine  Wolke  von  Staub  glänzt  auf  in  der  Ferne. 
Schamasch  läßt  sie  in  weißem  Lichte  erstrahlen.  Gil- 
gamesch kommt,  sein  Löwenfell  schimmert  wie  Gold. 
Enkidu  kehret  zurück  mit  dem  Freund  in  die  Stadt. 

Neue  Schmerzen  ergreifen  Enkidus  Herz.  Seinem 
Freunde  erzählt  er,  was  ihn  bedrückt: 

„Schwere  Träume,  mein  Freund,  schaute  ich  diese 
Nacht.  Es  brüllte  der  Himmel,  Antwort  bebte  die 
Erde.  Einem  Starken  stelle  ich  mich  allein.  Wie  die 
Nacht  war  düster  sein  Antlitz,  glotzend  quoll  das  Auge 
hervor.  Er  sah  aus  wie  ein  scheußlicher,  zähnefletschen- 
der Wüstenhund.  Wie  ein  Geier  hatte  er  mächtige 
Flügel  und  Krallen.  Er  packte  mich  fest,  warf  mich 
in  einen  Abgrund,  ließ  mich  untertauchen  in  furcht- 
bare Tiefe.  Wie  Bergesschwere  lag  es  auf  mir.  Wie 
ein  massiger  Felsen  erschien  mir  die  Last  meines  Leibes. 
Er  verwandelte  dann  meine  Gestalt  und  machte  vogel- 
gleich meine  Arme: 

jFliege  nun  tiefer  hinab,  tiefer  hinab  in  die  Woh- 
nung der  Finsternis,  zu  der  Behausung  Irkallas.  Steige 
hinab  in  die  Wohnung,  aus  der  nicht  wieder  hinaus- 
gehn,  die  sie  betreten.  Geh  hinab  den  Weg,  den  man 
nie  zurückgeht,  dessen  Bahn  sich  nicht  wendet  nach 
rechts  oder  links!  Tritt  ein  in  das  Haus,  dessen  Leute 

15 


das  Licht  entbehren!  Erdstaub  ist  ihre  Nahrung  und 
Lehm  ihre  Speise.  Bekleidet  sind  sie  mit  Flügeln  und 
Federn  wie  Fledermäuse  und  Eulen.  Das  Licht  sehen 
sie  nicht,  in  Dunkelheit  wohnen  sie.* 

In  die  Behausung  tief  unter  der  Erde  trat  ich  nun 
ein.  Da  sind  die  Königsmützen  von  den  Köpfen  ge- 
rissen, sind  niedergebeugt,  die  auf  Thronen  saßen  und 
seit  der  Vorzeit  Tagen  das  Land  beherrschten.  In  dem 
Hause  der  Finsternis,  in  das  ich  hineintrat,  wohnen 
Priester  und  Priesters  Knecht,  wohnen  die  Reinen, 
Zauberer  und  Propheten,  wohnen  Lieblinge  selbst  der 
großen  Götter,  wohnt  Ereschkigal,  der  Erde  und  Un- 
terwelt Königin.  Vor  ihr  kniet  der  Erde  Schreiberin, 
drückt  mit  dem  Keil  die  Namen  hinein  in  den  Ton  und 
liest  sie  ihr  vor.  Sie  erhob  ihr  Haupt  und  erblickte 
mich.  ,Schreibe  auch  diesen  mir  ein!'  Siehe,  das  ist 
der  Traum." 

Gilgamesch  spricht  zu  ihm,  zu  Enkidu: 

„Gib  deinen  Dolch  und  weih  ihn  dem  schlimmen 
Geiste  des  Todes!  Einen  glänzenden  Spiegel  geb  ich 
dazu,  der  möge  ihn  bannen.  Op  fern  wollen  wir  morgen 
dem  Richter  der  unheilvollen  Utukki,  daß  er  vertreibe 
die  böse  Sieben." 

Als  die  Sonne  am  nächsten  Morgen  erstrahlte,  öff- 
nete Gilgamesch  die  hohe  Pforte  des  Tempels,  brachte 
hinaus  einen  Tisch  aus  Elamakuholz,  füllt  mit  Honig 
den  Napf  aus  rotem  Gestein,  eine  Schale  aus  Lapisla- 
zuli  füllt  er  mit  Butter,  stellt  es  hin  und  läßt  es  den 
Sonnengott  lecken. 


i6 


Die  vierte  Tafel 

Und  Schamasch,  der  Sonnengott,  sprach  zu  Gilga- 
mesch: 

„Mache  dich  anf  mit  dem  Freunde,  zu  streiten  gegen 
Chumbaba!  Er  ist  zum  Hüter  des  Zedcrnwaldes  be- 
stellt; durch  den  Zcdernwald  geht  es  zum  Götterberge 
hinauf.  Gegen  mich  hat  Chumbaba  gefrevelt,  darum 
geht  und  erschlaget  ihn!" 

Gilgamesch  hörte  das  Wort  des  Herrn  und  rief  zu- 
sammen die  Edlen  des  Volkes.  Mit  Enkidu  trat  er 
hinein  in  die  Halle.  Und  Gilgamesch  tat  seinen  Mund 
auf  und  sprach: 

„Uns  hat  Schamasch  geheißen,  zu  streiten  gegen 
Chumbaba.  Friede  sei  mit  euch  und  mit  allem 
Volke!" 

Der  Älteste  unter  den  Edlen  der  Stadt  erhob  sich 
und  sprach: 

„Immer  beschirmte  Schamasch  seinen  Freund,  den 
herrlichen  Gilgamesch.  Seine  schützende  Hand  sei 
nicht  ferne  von  dir!  Furchtbar  ist  der  grimmige  Hüter 
des  Zedernwaldes.  Schamasch,  der  des  Kampfes  Be- 
ginn dir  verkündete,  gab  den  Freund  dir  zurück,  möge 
er  heil  den  Gefährten  erhalten!  Er  stehe  dir  hilfreich 
zur  Seite  und  hüte  dein  Leben,  o  König!  Du,  unser 
Hirte,  du  wirst  vor  dem  Feind  uns  beschirmen." 

Sie  verlassen  den  Ort  der  Versammlung,  und  Gilga- 
mesch sagt  zu  Enkidu : 

„Freund,  nun  wollen  wir  gehen  zum  Tempel  Egal- 
mach und  zu  der  heiligen  Priesterin.  Laß  uns  hingehn 
zu  Rischat,  der  Mutter  und  Herrin!  Hell  sieht  sie, 
zukünftigen  Schicksals  kundig.  Sie  gebe  den  Segen  zu 

n  ir 


unsern  Schritten,  in  des  Sonnengotts  starke  Hand  lege 
sie  unser  Geschick." 

Sie  gehen  zum  Tempel  Egalmach  und  treffen  die 
heilige  Priesterin,  die  Mutter  des  Königs.  Sie  vernahm 
alle  Worte  des  Sohnes  und  sprach: 

„Möge  Schamasch  dir  gnädig  sein !" 

Dann  trat  sie  hinein  in  die  Kammer  der  Feierkleider. 
In  heiligem  Schmuck  kehrte  sie  wieder  zurück,  gehüllt 
in  ein  weißes  Gewand,  auf  der  Brust  die  goldnen  Schil- 
der, auf  dem  Haupte  ihre  Tiara,  in  der  Hand  die 
Schale  mit  Wasser.  Sie  sprengte  den  Boden,  dann 
stieg  sie  den  Turm  des  Tempels  hinauf.  Oben  hoch 
unter  freiem  Himmel  stieg  der  duftende  Weihrauch 
empor.  Opferkörner  streute  sie  hin  und  hob  zum  er- 
habenen Schamasch  ihre  Hand: 

„Warum  hast  du  Gilgamesch,  meinem  Sohne,  ein 
Herz  gegeben,  dessen  Ungestüm  die  Ruhe  nicht  findet? 
Wieder  hast  du  ihn  angerührt,  denn  er  will  gehen  den 
fernen  Weg  zu  der  Behausung  Chumbabas.  Einen 
Kampf,  den  er  noch  nicht  kennt,  muß  er  bestehen. 
Einen  Weg,  den  er  noch  nicht  kennt,  wird  er  ziehen. 
Von  dem  Tage  an,  da  er  geht,  bis  zum  Tage,  da  er  zu- 
rückkehrt, bis  er  gelangt  zum  Zedernwalde,  bis  er 
Chumbaba,  den  Starken,  hinstreckt  und  den  Frevel 
gerächt,  getilgt  den  Schrecken  des  Landes,  -  alle  die 
Tage,  wenn  du,  Schamasch,  verlangst  nach  Aja,  deiner 
Geliebten,  möge  sie  von  dir  sich  wenden!  So  möge 
Aja,  deine  Gattin,  an  Gilgamesch  dich  erinnern.  So- 
lange sie  dir  das  Lager  der  Liebe  verweigert,  soll  dein 
Herz  wachen  und  seiner  gedenken,  bis  heil  er  zurück- 
kehrt." 

So  erflehte  sie  den  Beistand   der  Gemahlin   des 

i3 


Gottes.  In  bläulichen  Wolken  stieg  der  Weihrauch 
zum  Himmel.  Sie  stieg  hinab,  rief  Enkidu  und  sprach: 
„Enkidu,  du  Starker,  du  bist  mir  Freude  und  Trost. 
Jetzt  schirme  mir  Gilgamesch,  meinen  Sohn,  und  bringe 
ein  Opfer  dem  hohen  Schamasch!" 

Sie  machten  sich  auf  den  Weg  und  zogen  nach  Nor- 
den. Von  ferne  erblickten  sie  schon  den  Weltberg, 
den  Wohnsitz  der  Götter.  Durch  den  Zedernwald 
führte  der  Weg  hinan.  Als  sie  vor  sich  das  Dunkel  des 
Waldes  sahen,  ließen  sie  die  Zelte  dahinten.  Alleine 
gingen  sie  näher  zu  dem  Gehege  der  Götter. 

Von  weitem  erspäht  die  Helden  der  Förster  Chum- 
babas.  Er  sieht  sie  nahen  und  kommt  auf  sie  zu.  Sein 
Leib  war  mit  sieben  zauberkräftigen  Mänteln  bekleidet. 
Sechs  legte  er  ab,  wechselte  sie,  so  daß  die  untern  nach 
oben  kamen.  Wie  ein  Wildstier  wutschnaubend,  läuft 
er  heran  und  brüllt  mit  furchtbarer  Stimme: 

„Kommt  nur  her,  daß  ich  euch  den  Geiern  zum 
Fraß  hinwerfe!" 

Doch  Schamasch,  der  Sonnengott,  schützte  die  Hel- 
den, machte  den  Zauber  der  Mäntel  des  Försters  zu- 
nichte. Ninib,  der  Gott  der  Streiter,  machte  stark  ihre 
Hände,  und  sie  erschlugen  den  Riesen,  den  Förster 
Chumbabas. 

Enkidu  tat  seinen  Mund  auf  und  spricht  zu  Gilga- 
mesch also: 

„Lieber  Freund,  wir  wollen  nicht  näher  dem  Walde 
gehen,  nicht  in  das  Dunkel  des  Forstes  hinein!  Wie  ge- 
lähmtsind mir  alle  Glieder,  wie  gelähmt  meine  Hand." 

Gilgamesch  sagt  zu  ihm,  zu  Enkidu: 

„Sei  nicht  wie  ein  Schwächling,  sei  nicht  furchtsam 


19 


und  feige,  mein  Freund!  Weiter  müssen  wir  gehen 
and  gegen  Chumbaba  selbst  nun  wenden  das  Antlitz. 
Erschlugen  wir  nicht  seinen  Förster?  Sind  wir  nicht 
beide  kundig  des  Kampfes?  Auf,  zum  Götterberge 
hinan!  Traue  Schamasch,  und  du  wirst  dich  nicht 
fürchten !  Die  Lähmung  der  Hand  wird  verschwinden. 
Raffe  dich  auf  aus  der  Schwäche!  Komm,  wir  gehen! 
Zusammen  wollen  wir  streiten!  Der  Sonnengott  ist 
unser  Freund  und  treibt  uns  zum  Kampfe.  Vergiß  den 
Tod!  Dann  gibt  es  gar  keinen  Schrecken.  Im  Walde 
seien  wir  auf  der  Hut,  wir  wollen  uns  überall  umsehn, 
daß  nicht  der  Starke  aus  seinem  Versteck  uns  ergreife. 
Der  Gott,  der  dich  schützte  im  eben  bestandenen 
Kampfe,  möge  meinen  Gefährten  beschirmen!  Die 
Länder  der  Erde  werden  unsere  Namen  preisen." 

Sie  machten  sich  auf  den  Weg  und  erreichten  den 
Zedernwald.  Ihre  Worte  standen  still,  und  sie  selbst 
blieben  stehen. 

Die  fünfte  Tafel 

Sie  standen  schweigend  davor  und  schauten  den 
Wald  an :  sie  sehen  die  Zedern,  staunend  betrachten 
sie  die  Höhe  der  Stämme.  Sie  blicken  den  Wald  an 
und  die  weite  Lichtung,  wo  es  hineinführt;  da  ist  der 
breite  Weg,  auf  dem  Chumbaba  einhergeht  mit  stolzen, 
stampfenden  Schritten.  Wege  und  Stege  sind  herge- 
richtet, schöne  Pfade  sind  angelegt.  Sie  sehen  den  Ze- 
dernberg, die  Wohnung  der  Götter,  hoch  oben  den 
heiligen  Tempel  Irninis.  Vor  dem  Tempel  stehen  die 
Zedern  in  prächtigster  Fülle.  Der  Schatten  der  Bäume 
tut  den  Wanderern  wohl,  die  Zeder  ist  voller  Jubel. 

30 


Unter  ihr  kriecht  das  Dornengestrüpp,  und  dunkle 
Sträucher  grünen  im  Moos.  SchUnggewächse  und 
duftende  Blumen  bergen  sich  unter  der  Zeder  im 
dichten  Gebüsch. 

Eine  Doppelstunde  gingen  sie  weit,  eine  zweite  und 
eine  dritte.  Mühsam  wurde  die  Wandrung,  steiler  ging 
es  hinauf  zum  Berge  der  Götter.  Von  Chumbaba  sahen 
und  hörten  sie  nichts.  Die  Nacht  senkte  sich  über 
den  Wald,  die  Sterne  erschienen,  und  sie  legten  sich 
schlafen. 

Früh  am  Morgen  weckte  Enkidu  den  Freund: 

„Ein  Traumgesicht  hatte  ich,  Freund,  und  der  Traum, 
den  ich  sah,  war  schrecklich  fürwahr.  Vor  der  Spitze 
des  Berges  standen  wir  beide,  da  rollte  ein  überhängen- 
der Felsen  herunter  mit  Donnergetöse,  ein  Mensch 
wurde  zerschmettert,  während  wir  beide  zur  Seite 
flogen  wie  winzige  Fliegen  des  Feldes,  -  dann  waren 
wir  auf  der  Straße  nach  Uruk." 

Da  sagt  der  König  zum  Freunde: 

„Enkidu,  der  Traum,  den  du  hattest,  ist  gut.  Der 
Traum,  den  du  sahst,  ist  köstlich,  mein  Freund,  von 
guter  Bedeutung.  Wenn  du  den  Berg  sahst  nieder- 
fallen, den  dritten  Menschen  zerschmettern,  so  heißt 
das:  wir  werden  Chumbaba  ergreifen  und  nieder- 
schlagen. Aufs  Feld  werden  wir  seine  Leiche  werfen 
und  in  der  nächsten  Morgendämmerung  heimzichn." 

Dreißig  Stunden  zogen  sie  weiter,  dreißig  Stunden 
zählten  sie  schon.  Vor  dem  Sonnengott  gruben  sie 
eine  Grube,  zu  Schamasch  erhoben  sie  ihre  Hände. 
Gilgamesch  stieg  hinauf  und  trat  auf  den  Hügel  der 
aufgeworfenen  Erde,  warf  Körner  hinein  in  die  Grube 
und  sprach : 


91 


„Berg,  bring  ein  Traumbild ! 

Mach  dem  Enkidu  Träume,  hoher  Schamasch!" 

Ein  kalter  Wind  zog  durch  die  Bäume,  es  fuhr  ein 
schauriger  Sturm  daher.  Gilgamesch  ließ  den  Freund 
sich  niederlegen,  und  selbst  legte  ersieh;  er  neigte  sich 
vor  dem  Sturm  wie  das  Korn  der  Berge  im  Winde, 
sank  auf  die  Knie  und  stützte  das  müde  Haupt  dem 
Freund.  Ein  Schlaf,  wie  er  sich  über  die  Menschen 
ergießt,  fiel^schwer  auf  Enkidu  nieder.  In  der  Mitte 
der  Nacht  wr  der  Schlaf  vorbei.  Er  richtet  sich  auf 
und  redet  zu  seinem  Freunde: 

„Gilgamesch,  riefst  du  mich  nicht?  Woher  bin  ich 
denn  wach?  Rührtest  du  mich  nicht  an?  Warum  bin 
ich  so  aufgeschreckt?  Ist  nicht  ein  Gott  vorüberge- 
gangen? Warum  ist  mein  ganzer  Leib  so  gelähmt? 
Mein  Freund,  wieder  hatte  ich  einen  Traum,  und  der 
Traum,  den  ich  sah,  war  schrecklich:  Es  rief  der  Him- 
mel, Antwort  brüllte  die  Erde,  dunkle  Wetterwolken 
zogen  herbei,  finster  ballten  sie  sich  zusammen,  ein 
Blitz  leuchtete  auf,  ein  Feuer  flammte  empor,  die  Wol- 
ken breiteten  immer  weiter  sich  aus,  es  regnete  Tod. 
Noch  einmal  wurde  es  hell,  dann  erlosch  das  Feuer. 
Ein  Mann,  der  vom  Blitz  erschlagen  war,  wurde  zu 
Asche.  Laß  uns  weitergehen,  auf  den  Matten  zwischen 
den  Zedern  wollen  wir  uns  beraten." 

Gilgamesch  tat  seinen  Mund  auf  und  sagt  zu  dem 
Freunde: 

„Enkidu,  gut  ist  dein  Traum,  freudevoll  ist  seine 
Deutung.  Hart  wird  der  Streit,  doch  wir  werden  Chum- 
baba  erschlagen." 

Mühsam  steigen  sie  weiter  hinan  bis  zur  Spitze  des 
Berges,  wo  der  Zedern  prächtigste  Fülle  die  Wohnung 

22 


der  Götter  umkränzt.  In  blendendem  Weiß  erstrahlt 
der  heilige  Turm  der  Göttin  Irnini. 

Da  ertönt  ein  furchtbares  Schnauben,  die  Bäume 
rauschten.  Chumbaba  selbst  sahen  sie  kommen,  Pran- 
ken hatte  er  wie  ein  Löwe,  den  Leib  mit  ehernen 
Schuppen  bedeckt,  an  den  Füßen  die  Krallen  des 
Geiers,  auf  dem  Haupte  die  Hörner  des  Wildstiers;  der 
Schwanz  und  das  Glied  der  Zeugung  enden  im  Schlan- 
genkopf. 

„Auf,  Enkidu !  Schamasch,  der  Sonnengott,  schenke 
uns  Leben!" 

Sie  schössen  die  Pfeile  auf  ihn,  warfen  das  Wurf- 
holz. Die  Geschosse  prallten  zurück,  er  blieb  unver- 
sehrt. Nun  steht  er  vor  ihnen.  Schon  packt  er  Enkidu 
mit  kralligen  Tatzen.  Da  erhebt  der  König  die  Streit- 
axt. Getroffen  sinkt  Chumbaba  zu  Boden,  und  Gilga- 
mesch  trennt  ihm  das  Haupt  vom  schuppigen  Nacken. 
Sie  nehmen  den  mächtigen  Leib  und  schleppen  ihn 
fort  ins  Freie.  Sie  werfen  ihn  hin  den  Vögeln  zum 
Fraß.  Den  Kopf  mit  den  Hörnern  tragen  sie  mit  sich 
auf  hoher  Stange  zum  Zeichen  des  Sieges. 

Weiter  geht  es  nun  mutig  hinauf  zum  Berge  der 
Götter.  Durch  der  Zedern  prächtigste  Fülle  gelangen 
sie  endlich  zur  Spitze  des  Berges.  Da  ruft  vom  Berg 
eine  Stimme,  es  ertönt  die  Stimme  Irninis: 

„Kehrt  um!  Euer  Werk  ist  getan.  Wendet  euch 
wieder  nach  Uruk,  der  Stadt,  sie  wartet  auf  euch! 
Kein  Sterblicher  kommt  auf  den  heiligen  Berg,  wo  die 
Götter  wohnen.  Wer  den  Göttern  ins  Angesicht 
schaut,  muß  vergehn!" 

Und  sie  wandten  sich  um,  zogen  durch  Schluchten 
und  vielverschlungcne  Wege,  kämpltcn  mit  Löwen 


nnd  nahmen  ihnen  das  Fell.  Am  Tage  des  Vollmonds 
kehrten  sie  heim  in  die  Stadt.  Gilgamesch  trug  das 
Haupt  des  Chumbaba  auf  seinem  Jagdspieß. 

Die  sechste  Tafel 

Er  wusch  seine  Waffen  und  machte  blank  das  könig- 
liche Geschmeide,  kämmte  sein  Haar,  das  in  den 
Nacken  herabfiel,  warf  ab  seine  schmutzigen  Kleider 
und  zog  ein  reines  Gewand  an.  Er  wirft  den  umsäum- 
ten Mantel  sich  um  und  umgürtet  die  Hüften.  Seine 
Tiara  setzt  Gilgamesch  auf.  Fest  band  er  den  Gürtel. 
Schön  war  Gilgamesch.  Da  entbrannte  die  Göttin 
der  Liebe  in  Lust.  Ischtar  selbst  erhob  ihr  Auge  zu 
Gilgamesch: 

„Komm,  Gilgamesch,  sei  mein  Geliebter!  Schenke 
Inir  deinen  Samen,  ach,  schenke  ihn  mir!  Du  sei  mein 
Mann,  ich  sei  dein  Weib!  Anschirren  laß  ich  den 
Wagen,  aus  Lapislazuli  und  aus  Gold  ist  der  Wagen; 
seine  Räder  sind  golden,  mit  Edelsteinen  geziert  seine 
Hörner.  Als  Gespann  sollst  du  täglich  haben  die 
stärksten  und  schönsten  Pferde.  Unter  dem  Duft  der 
Zeder  tritt  ein  in  mein  Haus !  Bist  du  in  meinem  er- 
habenen Hause,  küssen  dir  alle,  die  auf  Thronen  sitzen, 
die  Füße;  es  sinken  in  den  Staub  die  Großen  und  die 
Könige  der  Erde.  Von  den  Bergen  und  der  Ebene 
sollen  sie  dir,  was  dein  Herz  begehrt,  zum  Tribute 
bringen.  Deine  Rinder  all,  die  Schafe  und  Ziegen  der 
Herde  sollen  dir  Zwillinge  werfen!  Mit  Schätzen  be- 
laden sollen  Maultiere  zu  dir  kommen.  Herrlich  vor 
allen  soll  dein  Streitwagenroß  dahinstürmen,  dein 
prangender  Hengst  soll  nicht  seinesgleichen  haben!" 


Gilgfmesch  tat  seinen  Mund  auf  und  spricht,  cur 
mächtigen  Ischtar  sagt  er: 

„Behalte  für  dich  deine  Reize!  Ich  verachte  die 
Frucht  deines  schnöden  lockenden  Leibes.  Ich  brauch 
nicht  dein  Brot,  ich  will  nicht  die  Nahrung,  die  du  mir 
gibst.  Schnöde  ist  deine  Speise,  wenn  du  auch  Götter- 
kost bietest;  keine  Lust  erweckt  mir  dein  Becher,  wenn 
du  auch  Trank  der  großen  Götter  mir  darreichst.  Bei 
deiner  Tücke  will  ich  dich  packen!  Heiß  ist  dein 
Werben,  aber  im  Herzen  ist  Kälte,  eine  heimliche  Hin- 
tertür, die  eisigen  Wind  hineinläßt,  ein  schimmerndes 
Haus,  das  die  Starken  erschlägt,  ein  Elefant,  der  ab- 
wirft den  Sattel,  ein  Pech,  das  den  Fackelträger  ver- 
zehrt, ein  Schwimmschlauch,  der  platzt  unter  seinem 
Träger,  ein  Kalkstein,  der  eine  Stadtmauer  nicht  be- 
festigt, ein  Schuh,  der  seinen  Besitzer  drückt!  Wo  ist 
ein  Geliebter,  den  du  beständig  wirst  lieben?  Wo  ist 
dein  Hirte,  dem  du  immer  geneigt  bist?  Deine  Schand- 
taten alle  sollst  du  zu  hören  bekommen.  Abrechnung 
will  ich  dir  halten :  Tamuz,  dem  jugendlichen  Geliebten, 
dem  Frühlingsgotte,  hast  du  Jahr  für  Jahr  bittre  Klage 
bestimmt.  In  einen  buntgefiederten  Hirtenknaben  ver- 
liebtest du  dich;  du  schlugst  ihn,  zerbrachst  seinen 
Flügel.  Im  Walde  steht  er  und  ruft:  kappi,  kappi,  mein 
Flügel !  Den  Löwen  gewannst  du  lieb,  denn  er  strotzte 
vor  Kraft;  sieben-  und  siebenmal  grubst  du  ihm  Gru- 
ben. Du  liebtest  das  Roß,  siegesfroh  jagt  es  gegen  den 
Feind;  du  ließest  es  abgir  die  Peitsche,  den  Sporn  und 
die  Geißel  fühlen.  Du  gewannst  auch  lieb  einen 
kräftigen  Oberhirten,  fleißig  streute  er  dir  die  Opfer- 
körner, ein  Zicklein  schlachtete  er  dir  täglich.  Du 
schlugst  ihn  mit  deinem  Stabe  und  machtest  aus  ihm 

35 


einen  Wolf.  Es  verjagen  ihn  nun  seine  eigenen  Hir- 
tenjungen, seine  eigenen  Hunde  zerbeißen  ihm  nun 
das  Fell.  Endlich  gewannst  du  lieb  Ischullanu,  deines 
himmlischen  Vaters  Gärtner.  Wann  du  nur  wolltest, 
brachte  er  dir  einen  Strauß,  in  Blumen  prangte  täglich 
dein  Tisch.  Du  warfst  dein  Auge  auf  ihn  und  locktest: 

,Komm,  Ischullanu,  vom  Brot  der  Götter  wollen 
wir  essen,  strecke  die  Hand  nur  aus !  Koste  mit  mir  von 
den  süßen  Früchten!* 

Da  sprach  Ischullanu  zu  dir : 

,Was  verlangst  du  von  mir?  Hat  meine  Mutter  nicht 
gebacken  und  habe  ich  nicht  gegessen,  daß  ich  Speisen 
essen  sollte  zu  meinem  Verderben,  Speisen,  die  mir  zu 
Dornen  und  Disteln  werden?' 

Da  du  das  hörtest,  schlugst  du  auch  ihn  mit  dem 
Stabe,  verwandeltest  ihn  in  einen  Dallalu,  gabst  ihm 
eine  Kloake  zur  Wohnung.  Nun  steigt  er  nicht  mehr 
hinauf  in  den  Tempel  und  wieder  hinab  in  den  Garten. 
-  Meine  Liebe  begehrst  du  nun  und  willst  mich  wie 
jene  behandeln." 

Als  Ischtar  das  hörte,  erfaßte  sie  gräßliche  Wut. 
Sie  stieg  zum  Himmel  empor.  Ischtar  trat  hin  vor  Anu, 
den  Vater,  und  vor  Antu,  die  himmlische  Mutter,  stellt 
sie  sich  hin: 

„Vater  im  Himmel,  Gilgamesch  hat  mich  ver- 
wünscht, Gilgamesch  hat  als  Bosheiten  all  meine  Taten 
mir  hergezählt.  Schandbar  hat  er  an  mir  gehandelt." 

Anu  tat  seinen  Mund  auf  und  spricht,  er  sagt  zu  ihrer 
Hoheit,  der  Ischtar: 

„Du  fordertest  also  heraus  die  Liebe  des  Gilga- 
mesch, und  Gilgamesch  hat  deine  Bosheiten  aufge- 
zählt. Wie  schändlich  hat  Gilgamesch  da  gehandelt!" 

26 


Ischtar  tat  ihren  Mund  auf  und  spricht  zu  Anu,  dem 
Vater: 

„Schaffe  mir  einen  Wunderstier,  himmlischer  Vater, 
daß  er  den  Gilgamesch  niederstoße!  Bring  Angst  und 
Schrecken  über  den  Gilgamesch!  Wenn  du  meine 
Bitte  nicht  hörst  und  mir  nicht  den  Wunderstier 
schaffst,  so  will  ich  die  Pforten  der  Hölle  zerschmettern, 
alle  Teufel  unter  der  Erde  kommen  hervor,  alle,  die 
längst  gestorben,  werden  dann  wiederkehren.  Tote 
sollen  dann  mehr  als  Lebendige  sein!" 

Anu  tat  seinen  Mund  auf  und  spricht  zur  gewaltigen 
Tochter,  der  Ischtar: 

„Wenn  ich  tue,  was  du  begehrst,  so  werden  sieben 
Hungerjahre  entstehen.  Hast  du  genügend  Korn  in 
den  Speichern  gesammelt?  Hast  du  Grün  und  Kräuter 
genug  wachsen  lassen  fürs  Vieh?" 

Ischtar  spricht  zu  Anu,  dem  Vater: 

„Genug  Korn  für  die  Menschen  ist  aufgehäuft;  Gras 
und  Kräuter  gibt  es  genug  für  das  Vieh.  Es  mögen  die 
sieben  bösen  Jahre  nur  kommen,  es  ist  genug  gesam- 
melt für  Menschen  und  Vieh.  Drum  schicke  ihn  nur! 
Des  Wunderstiers  Schnauben  gegen  den  Gilgamesch 
will  ich  genießen!" 

Es  hört  der  Himmelsgott  ihre  Worte.  Und  Anu 
erhört  ihre  Bitte.  Vom  Götterberge  herab  schickt  er 
den  furchtbaren  Stier;  nach  Uruk,  der  Stadt,  läßt  er  ihn 
kommen.  Über  Saat  und  Felder  tobt  er  daher.  Er 
verwüstet  das  Land  vor  den  Mauern  der  Stadt.  Hun- 
dert Mann  fegt  sein  feuerschnaubender  Atem  hinweg. 
Wie  er  daherjagt,  springt  Enkidu  zur  Seite  und  faßt 
ihn  am  Ende  des  Schwanzes.  Der  Stier  reißt  schnau- 
bend sich  los,  stürze  sich  auf  zweihundert  Männer  und 


stößt  sie  nieder.  Als  er  zum  drittenmal  schnaubend 
herankommt,  tritt  Enkidu  ihm  wieder  entgegen,  springt 
zur  Seite  und  packt  ihn  fest  an  der  Dicke  des  Schwan- 
zes. Gilgamesch  stößt  ihm  das  Schwert  in  die  Brust, 
röchelnd  sinkt  er  zu  Boden.  Enkidu  tat  seinen  Mund 
luf  und  spricht  zu  Gilgamesch: 

„Freund,  wir  haben  unsere  Namen  herrlich  gemacht, 
wir  erschlugen  den  liimmelsstier!" 

Und  Gilgamesch,  wie  ein  Weidmann  erfahren  in 
Wildstierjagd,  trennt  zwischen  Nacken  und  Hörnern 
das  Haupt  vom  mächtigen  Rumpfe  des  Tieres. 

Als  sie  so  den  Himmelsstier  niedergestreckt,  be- 
ruhigten sie  ihr  Herz;  vor  Schamasch,  dem  Sonnen- 
gott, fielen  sie  nieder.  Sie  erhoben  sich  vor  Schamasch 
und  gingen  davon.  Vor  der  Mauer  der  Stadt  ruhten 
sie  aus,  die  beiden  Gefährten. 

Da  ging  Ischtar  hinauf  auf  die  Mauer  von  Uruk,  der 
Stadt,  sprang  auf  die  Zinne  und  schrie  einen  Fluch 
herab : 

„Wehe  dir,  Gilgamesch,  dreimal  Wehe,  Tod  und 
Verderben,  daß  du  wieder  an  mir  gefrevelt  und  den 
himmlischen  Stier  erschlugst!" 

Also  fluchte  die  Herrin  der  Götter,  und  Enkidu 
hörte  die  Worte  der  Ischtar.  Ein  Glied  riß  er  los  vom 
Himmelsstier  und  schleudert  es  ihr  ins  Antlitz : 

„Könnte  ich  dich  nur  kriegen!  Wie  ihm  tat  ich  auch 
dir,  und  mit  seinen  Gedärmen  würde  ich  dich  be- 
hängen!" 

Da  versammelte  Ischtar  alle  Mädchen  des  Tempels, 
alle  Frauen  und  Priesterinnen  der  Liebe,  und  ließ  eine 
Klage  erheben.  Und  sie  beweinten  das  abgerissene 
Glied  des  Wunderstieres. 


Gilgamesch  rief  die  Meister,  die  Kunsthandwerker 
alle  zusammen.  Staunend  bewundern  die  Meister  die 
großen  gewundenen  Hörner;  je  dreißig  Pfund  Lazur- 
stein  wog  ihre  Masse,  zwei  Finger  dick  war  ihre  Schale. 
Über  sechshundert  Liter  Öl,  soviel  beide  Hörner  faß- 
ten, spendete  Gilgamesch  als  Salböl  seinem  Gott  Lu- 
galbanda,  brachte  die  Hörner  hinein  in  den  Tempel 
des  schützenden  Gottes  und  befestigte  sie  am  Throne 
des  göttlichen  Herrschers. 

Im  Euphrat  wuschen  sie  ihre  Hände  und  machten 
sich  auf.   Sie  ziehen  dahin  und  reiten  daher  auf  der 
Straße  in  Uruk.  Und  alle  Leute  von  Uruk  stehen  ver- 
sammelt, schauen  sie  an  und  staunen.  Zum  Chore  der 
Frauen  seines  Palastes  spricht  Gilgamesch  also: 
„Wer  ist  schön  unter  den  Männern? 
Wer  ist  herrlich  unter  den  Mannen?" 
„Gilgamesch  ist  schön  unter  den  Männern! 
Gilgamesch  ist  herrlich  unter  den  Mannen!* 
so  ertönt  es  im  freudigen  Chore  der  Frauen. 

Froh  ist  Gilgamesch,  ein  Freudenfest  feiert  er.  Flö- 
tenspiel und  Gesang  zum  Tanz  erklang  in  der  schim- 
mernden Malle.  - 

Es  ruhen  die  Mannen,  hingestreckt  auf  dem  nächt- 
lichen Lager.  Es  ruht  Enkidu,  Traumbilder  schaut  er. 
Es  erhob  sich  Enkidu,  erzählt  seine  Träume  und  spricht 
zu  Gilgamesch  also: 

Die  siebente  Tafel 

Warum  haben  sich  die  großen  Götter  beraten? 
Warum  planen  sie  mein  Verderben,  Freund? 
Seltsam  war  der  Traum,  den  ich  sah,  sein  Ende  kün- 


29 


dete  Unheil.  Ein  Adler  packte  mich  mit  ehernen 
Krallen  und  flog  mit  mir  vier  Stunden  hinauf.  Er  sprach 
zu  mir:  , Schau  hinunter  aufs  Land!  Wie  sieht  es  aus? 
Blick  auf  das  Meer!  Wie  erscheint  es  dir?*  Und  das 
Land  war  wie  ein  Berg,  und  das  Meer  wie  ein  kleines 
Gewässer.  Und  wieder  flog  er  höher,  vier  Stunden 
hinauf,  und  sprach  zu  mir:  ,Schau  hinunter  aufs  Land! 
Wie  sieht  es  aus?  Blick  auf  das  Meer!  Wie  erscheint 
es  dir?*  Und  die  Erde  war  wie  ein  Garten,  und  das 
Meer  wie  der  Wasserlaufeines  Gärtners.  Und  wieder 
vier  Stunden  flog  er  höher  und  sprach:  ,Schau  hinunter 
aufs  Land!  Wie  sieht  es  aus?  Blick  auf  das  Meer!  Wie 
erscheint  es  dir?*  Und  das  Land  sah  aus  wie  ein  Mehl- 
brei, und  das  Meer  wie  ein  Wassertrog.  Zwei  Stunden 
noch  trug  er  mich  höher  hinauf,  daließ  er  mich  fallen. 
Und  ich  fiel,  und  ich  fiel  und  lag  zerschmettert  am  Bo- 
den. Dies  ist  der  Traum.  Lleiß  vor  Schrecken  wachte 
ich  auf.** 

Gilgamesch  hörte  die  Worte  Enkidus,  und  sein  Blick 
verfinsterte  sich.  Er  erhob  seine  Stimme  und  sprach 
zu  Enkidu,  dem  Freunde: 

„Ein  böser  Geist  wird  dich  packen  mit  seinen  Krallen. 
Wehe,  die  großen  Götter  haben  ein  Unheil  beschlossen ! 
Lege  dich  nieder,  denn  deine  Stirne  ist  heiß.** 

Enkidu  legte  sich  hin,  und  über  ihn  kam  ein  Dämon, 
ein  böser  Geist  des  Fiebers  erfaßte  sein  Haupt.  Eine 
Tür  redet  er  an  wie  einen  lebendigen  Menschen: 

„Tür  des  Haines,  Tor  des  Zedernberges,  du  hast  ja 
keinen  Verstand!  Vierzig  Stunden  bin  ich  gelaufen, 
bis  ich  dein  Holz  erwählte,  bis  ich  die  hohe  Zeder  sah; 
du  bist  aus  echtem  Holz.  Zweiundsiebzig  Ellen  ist  deine 
Höhe,  und  vierundzwanzig  Ellen  beträgt  deine  Breite. 


30 


Aus  hartem  Felsen  sind  die  Pfeiler  gehauen,  und  schön 
gewölbt  ist  dein  Überbau.  Ein  Fürst  in  Nippur  hat 
dich  gebaut.  Hätte  ich  nur  gewußt,  du  Tür,  daß  du 
Verderben  wurdest,  und  diese  Schönheit  mein  Unheil, 
ich  hätte  die  Axt  erhoben  und  dich  zerschmettert.  Ein 
Rohrgeflecht  hätt  ich  zusammengefügt — " 

Da  erhob  Gilgamcsch  laute  Klage  und  sprach: 

„Mein  Freund,  der  mit  mir  Wüsten  und  Berge  durch- 
wanderte, mein  Freund,  der  mit  mir  alle  Gefahren  teilte, 
mein  Freund,  es  erfüllt  sich  der  Traum!  Nicht  läßt  das 
Schicksal  sich  hindern!" 

Und  am  Tage,  da  er  das  Traumbild  sah,  begann  4as 
Geschick  des  Traumes  sich  zu  erfüllen.  Krank  liegt 
Enkidu  danieder.  Er  liegt  auf  dem  Teppichlager,  einen 
Tag,  einen  zweiten  Tag;  der  Wahn  des  bösen  Fiebers 
hält  ihn  gefangen.  Einen  dritten  Tag,  einen  vierten 
Tag  liegt  er  und  schläft.  Einen  fünften,  sechsten  und 
siebenten,  einen  achten,  neunten  und  zehnten  Tag  liegt 
Enkidu  da,  und  sein  Schmerz  wird  groß;  einen  elften 
und  zwölften  Tag  stöhnt  Enkidu  auf  in  der  Hitze  des 
Fiebers.  Er  ruft  seinen  Freund  und  spricht: 

„Der  Herr  des  Lebenswassers  hat  mich  verwünscht, 
mein  Freund,  wie  einer,  der  mitten  im  Kampfe  dem 
Feinde  flucht.  Mein  Freund,  wer  in  der  Schlacht  er- 
schlagen wird,  ist  tot.  Ich  aber  wurde  im  Kampfe  er- 
schlagen!" 

Die  achte  Tafel 

Sobald  der  erste  Morgenschimmer  glänzte,  erhob 
sich  Gilgamesch  und  trat  zum  Lager  des  Freundes. 
Still  lag  Enkidu.  Leise  nur  hob  sich  die  Brust  und  senkte 


31 


sich  wieder.  Leise  nur  strömte  der  Hauch  seiner  Seele 
aus  seinemMunde.  Und  Gilgamesch  weinte  und  sprach : 

„Enkidu,  du  junger  Freund,  wo  ist  deine  Kraft  und 
deine  Stimme  geblieben?  Wo  ist  mein  Enkidu?  Stark 
warst  du  wie  Löwe  und  Wildstier,  schnell  warst  du 
wie  die  Gazelle.  Wie  einen  Bruder  liebte  ich  dich, 
dich!  Ich  habe  dich  groß  gemacht  vor  allen  Fürsten, 
dich,  dich!  Alle  schönen  Frauen  von  Uruk  Hebten 
dich,  dich!  Zum  Zedernwald  ging  ich  mit  dir,  Tag 
und  Nacht  w^arst  du  bei  mir.  Du  brachtest  mit  mir  das 
Haupt  des  Chumbaba  in  das  umfriedigte  Uruk,  so  daß 
die  bedrängten  Bewohner  der  Berge,  vom  Unhold  be- 
freit, beständig  uns  segnen.  Wir  erschlugen  den  schnau- 
benden Wunderstier.  Hat  seines  Schnaubens  giftiger 
Hauch  dich  vielleicht  getroffen?  Haben  die  großen 
Götter  es  doch  nicht  gebilligt,  daß  wir  im  Zorne  über 
die  Ischtar  ergrimmten  und  den  Stier,  vom  Himmel 
gesandt,  erschlugen?" 

Und  schweigend  saß  er  eine  Stunde  am  Lager  des 
Freundes,  und  sein  Blick  irrte  hinaus  in  die  Ferne.  Auf 
Enkidu  blickte  Gilgamesch  wieder.  Still  lag  Enkidu 
und  schlief. 

„Enkidu,  Geliebter  und  Freund  meiner  jungen  Jahre ! 
Da  liegt  nun  der  Panther  der  Steppe,  der  alles  ver- 
mochte, daß  wir  zum  Götterberg  stiegen,  daß  wir  den 
Himmelsstier  packten  und  schlugen,  den  Chumbaba 
niederwarfen,  der  im  Zedernwald  wohnte,  -  was  ist 
das  jetzt  für  ein  tiefer  Schlaf,  der  dich  gepackt  hat? 
Du  siehst  so  finster  aus  und  hörst  mich  nicht  mehr!" 

Doch  der  erhebt  seine  Augen  nicht  mehr.  Gilga- 
mesch berührte  sein  Pierz,  aber  es  klopft  nicht  mehr. 
Da  deckte  er  zu  den  Freund  wie  eine  Braut.  - 


ä« 


Einem  Löwen  gleich  erhob  er  die  klagende  Stimme, 
einer  Löwin  gleich,  die  vom  Speer  getroffen,  brüllte 
er  auf.  Seine  Haare  raufte  er  aus  und  streute  sie  hin, 
er  zerriß  sein  Gewand  und  zog  das  staubige  Trauer- 
kleid an. 

Sobald  der  nächste  Morgenschimmer  erglänzte,  erhob 
Gilgamesch  neue  Klage.  Sechs  Tage  und  sechs  Nächte 
beweint  er  Enkidu,  den  Freund.  Bis  die  Morgenröte 
des  siebenten  Tages  erschien,  ließ  er  ihn  unbegraben. 

Gilgamesch  bestattet  am  siebenten  Tage  den  Freund 
und  verläßt  Uruk,  die  Stadt.  Er  eilt  hinaus  in  die 
Steppe.  Draußen  trifft  ihn  ein  Jäger,  der  Fanggruben 
gräbt  für  den  Löwen.  Der  Jäger  redet  den  König  an 
und  spricht  zu  Gilgamesch  also: 

„Hoher  Gebieter,  du  erschlugest  den  grimmen  För- 
ster des  Zedernwaldes,  und  Chumbaba  selbst,  den  Be- 
herrscher des  Zedernberges,  warfst  du  nieder,  mit  deiner 
Hand  tötetest  du  in  den  Bergen  die  Löwen,  den  ge- 
waltigen Stier  erschlugst  du,  der  vom  Himmelsgotte 
gesandt  war,  -  woher  sind  deine  Wangen  so  bleich 
und  abgezehrt,  so  niedergeschlagen  dein  Antlitz?  Wo- 
her ist  deine  Seele  betrübt  und  deine  Gestalt  gebeugt? 
Warum  ist  laute  Klage  in  deinem  Herzen?  Warum  bist 
du  gleich  einem  Wandrer  ferner  Wege?  Warum  ist 
von  Wind,  Regenschauern  und  Mittagssonne  dein 
Antlitz  verbrannt?  Warum  eilst  du  so  ruhelos  über 
das  Feld  dahin?" 

Und  Gilgamesch  tat  seinen  Mund  auf,  redet  und 
spricht  zu  ihm : 

„Mein  Freund,  der  mir  verbunden  war  wie  das  Leib- 
roß, der  Panther  der  Steppe,  Enkidu,  mein  Freund, 
der  alles  vermochte,  daß  wir  den  Götterberg  erstiegen. 


Ö3 


33 


den  Wunderstier  packten  und  schlugen,  Chumbaba 
niederwarfen  im  Zederngebirge  und  in  den  Scliluchten 
die  Löwen  töteten,  mein  Freund,  der  mit  mir  alle  Ge- 
fahren teilte,  -  ihn  erreichte  der  Menschen  Schicksal. 
Sechs  Tage  und  sechs  Nächte  habe  ich  ihn  beweint, 
bis  zum  siebenten  Tag  ließ  ich  ihn  unbegraben.  Das 
Geschick  des  Freundes  lastet  so  schwer  auf  mir.  Da- 
her eile  ich  über  die  Steppe  und  suche  die  weite  Ferne. 
Wie  kann  ich  es  nur  verschweigen?  Wie  kann  ich  es 
nur  hinausschreien?  Der  Freund,  den  ich  liebe,  ist  zu 
Erde  geworden,  Enkidu,  mein  Freund,  ist  wie  der 
Lehm  des  Landes  geworden!  Werde  nicht  auch  ich 
wie  er  mich  zur  Ruhe  legen  müssen  und  nicht  wieder 
aufstehen  in  alle  Ewigkeit?" 

Die  neunte  Tafel 

Um  Enkidu,  den  Freund,  weint  Gilgamesch  bitter- 
lich und  jagt  dahin  über  das  Feld: 

„Werde  nicht  auch  ich,  ich,  wie  Enkidu  sterben? 
Mein  Innerstes  ist  von  Weh  durchwühlt.  Ich  habe 
Furcht  vor  dem  Tode  bekommen,  und  daher  eile  ich 
über  die  Steppe  dahin.  Zu  dem  mächtigen  Utnapisch- 
tim,  der  ewiges  Leben  gefunden  hat,  nehme  ich  jetzt 
den  Weg,  und  eile  zu  ihm  zu  kommen.  Wenn  ich 
nachts  auf  der  Steppe  bin  und  Löwen  sehe,  bin  ich 
furchtsam  geworden.  Ich  erhebe  mein  Haupt  und  flehe 
zu  Sin,  dem  Monde;  zu  Nin-Urum,  der  Herrin  der 
Lebensburg,  der  Leuchtenden  unter  den  Göttern,gehen 
meine  Gebete:  Erhaltet  mein  Leben  mir  unversehrt!" 

Müde  legte  er  sich  zur  Ruhe  und  sah  in  der  Nacht 
einen  Traum:  Es  spielte  ein  junger  Löwe  und  freute 

34 


sich  seines  Lebens.  An  seiner  Seite  die  Axt  erhob  er, 
zog  das  Schwert  seines  Gürtels  heraus,  -  da  fiel  ein 
spitzer  Fels  wie  ein  Wurfspeer  zwischen  sie  beide,  zer- 
sprengte die  Erde.  Er  selbst  sank  hinab  in  den  gähnen- 
den Spalt.  Erschreckt  fuhr  er  auf  und  wanderte  weiter. 

Als  die  Dämmerung  des  nächsten  Morgens  erschien, 
erhob  er  die  Augen  und  sah  ein  großes  Gebirge.  Des 
Gebirges  Name  ist  Maschu.  Das  sind  zwei  Berge,  die 
tragen  den  Himmel;  zwischen  den  Bergen  wölbt  sich 
das  Sonnentor,  aus  dem  die  Sonne  hervorgeht.  Ein 
Riesenpaar  bewacht  das  Bergtor  des  Himmels.  Nur 
mit  der  Brust  ragen  die  Menschenleiber  über  der  Erde 
hervor,  den  skorpionenartigen  Unterleib  strecken  sie 
tief  hinab  in  die  Unterwelt.  Schaurig,  schrecklich  sehen 
sie  aus,  und  Tod  verkündet  ihr  AnbUck.  Ihr  gräßliches 
Augenblitzen  läßt  Berge  niederrollen  zu  Tal.  Es  sah 
sie  Gilgamesch;  und  er  erstarrt.  Vor  Schrecken  ver- 
düstert sich  sein  Gesicht.  Er  faßt  sich  ein  Herz  und 
verneigt  sich  vor  ihnen.  Der  Skorpionmensch  ruft 
seinem  Weibe  zu: 

„Der  Mann,  der  da  zu  uns  kommt,  hat  einen  Leib 
und  ein  Fleisch  wie  die  Götter!" 

Dem  Skorpionen,  dem  Manne,  entgegnet  sein  Weib : 

„Zwei  Drittel  von  ihm  ist  Gott,  ein  Drittel  von  ihm 
ist  Mensch." 

Der  Skorpionmensch,  der  Mann,  ruft  und  spricht  zu 
dem  Freunde  der  Götter,  dem  Gilgamesch: 

„Einen  weiten  Weg  machtest  du,  seltsamer  Wan- 
drer; du  kamst  bis  vor  mich  hin.  Du  stiegst  über  Berge, 
schwer  zu  überschreiten.  Ich  will  deinen  Weg  wissen: 
hier  sind  deinem  Wandern  Grenzen  gesetzt.  Das  Ziel 
deiner  Fahrt  wül  ich  wissen  1" 


35 


Gilgamesch  antwortete  ihm,  dem  Skorpionen,  dem 
Manne,  und  sprach: 

„Um  Enkidu,  den  Freund,  den  Panther  der  Steppe, 
trage  ich  Leid.  Ihn  erreichte  der  Menschen  Schicksal. 
Den  Tod  fürchte  ich  nun,  so  jagte  ich  über  die  Steppe. 
Das  Geschick  Enkidus  lastet  so  schwer  auf  mir,  zu 
Staub  ist  geworden  der  Freund,  den  ich  liebte.  Enkidu, 
mein  Freund,  ist  wie  der  Lehm  des  Landes  geworden. 
So  eilte  ich  durch  die  Länder,  so  stieg  ich  über  die 
Berge  und  kam  bis  zu  dir  hin.  Ich  dachte,  zum  mäch- 
tigen Utnapischtim,  meinem  Ahnherrn,  will  ich  gehen. 
Er  gelangte  hinein  in  die  Versammlung  der  Götter, 
suchte  und  fand  das  Leben.  Nach  Tod  und  Leben  will 
ich  ihn  fragen." 

Der  Skorpionmensch  tat  seinen  Mund  auf  und  sagt 
zu  Gilgamesch  also: 

„Nie  gab  es  für  Menschen,  Gilgamesch,  einen  gang- 
baren Pfad  durch  diese  Berge  hindurch.  Niemand  hat 
einen  Weg  durch  das  Gebirge  gebahnt.  Zwölf  dop- 
pelte Stunden  zieht  sich  die  Höhlenschlucht  hin,  die 
zwischen  den  Himmelsbergen  hindurchführt.  Dicht  ist 
die  Finsternis,  keinen  Schimmer  von  Licht  gibt  es  im 
Hohlweg,  aus  dem  die  Sonne  hervorgeht,  wenn  sie  über 
den  Ländern  erscheint,  in  den  die  Sonne  wieder  hin- 
eingeht, wenn  sie  von  nächtlicher  Himmels-Ozean- 
fahrt  zurückkehrt.  Wir  bewachen  das  Tor  zu  dem 
finstern  Hohlweg.  Hinter  den  Bergen  liegt  das  Meer, 
das  die  Länder  der  Erde  umschlingt.  Du  kannst  den 
Weg  der  Sonne  nicht  gehen;  denn  er  führt  in  das  Land 
der  lichten  Götter.  Kein  Mensch  drang  jemals  hin- 
durch, durch  die  dunkle  Schlucht.  Hinter  dem  Tore 
der  Sonne,  da  wohnt  auch  dein  Ahnherr;  fern,  an  der 

36 


Mündung  der  Strömung,  wohnt  Utnapischtim,  jenseits 
der  Wasser  des  Todes;  über  diese  trägt  kein  Schiffdich 
hinüber." 

Gilgamesch  vernahm  die  Rede  des  Riesen  und 
spricht: 

„Durch  lauter  Weh  führt  mein  Weg;  des  Leides 
schaurige  Trübsal  ist  mir  bestimmt.  Soll  ich  in  Jammer 
und  Klage  meine  Tage  verbringen?  Gewähremir  jetzt 
den  Eintritt  in  das  Gebirge,  daß  ich  den  Utnapischtim 
sehe  und  nach  dem  Leben  ihn  frage,  das  er  gefunden. 
Laß  mich  hindurch,  damit  auch  ich  das  Leben  gewinne !" 

Der  Skorpionmensch  tat  seinen  Mund  auf,  redet  und 
spricht  zu  Gilgamesch: 

„Kühn  bist  du,  Gilgamesch,  und  von  gewaltiger 
Kraft.  Geh  nur,  Gilgamesch,  und  wage  den  Weg  zu 
finden!  Die  Berge  von  Maschu  sind  höher  als  alle 
Berge  der  Erde.  Im  Innern  dieses  Gebirges  bilden  die 
Felsen  eine  grausig  finstere  Schlucht.  Mögest  du  heil 
zum  Ende  des  Hohlwegs  gelangen !  Das  Sonnentor  der 
Berge,  das  wir  bewachen,  sei  dir  aufgetan!" 

Gilgamesch  hörte  die  Worte  und  machte  sich  auf 
den  Weg;  nach  dem  Geheiß  und  den  Winken  des 
Riesen  nahm  er  den  Weg.  Den  Weg  der  Sonne  geht 
Gilgamesch. 

In  zwei  Stunden  erreicht  er  die  dunkle  Schlucht. 
Dicht  war  die  Finsternis,  es  gab  keinen  Schimmer  von 
Licht;  nicht  sieht  er,  was  vor  ihm  liegt  und  was  hinter 
ihm  liegt.  Drei  doppelte  Stunden  vollendete  er.  Dicht 
war  die  Finsternis,  es  gab  keinen  Schimmer  von  Licht; 
nicht  sieht  er,  was  vor  ihm  liegt  und  was  hinter  ihm 
liegt.  Vier  doppelte  Stunden  vollendete  er.  Dicht 
war  die  Finsternis,  es  gab  keinen  Schimmer  von  Licht; 

37 


nicht  sieht  er,  was  vor  ihm  liegt  nnd  was  hinter  ihm 
liegt.  Fünf  doppelte  Stunden  vollendete  er.  Dicht 
war  die  Finsternis,  es  gab  keinen  Schimmer  von  Licht; 
nicht  sieht  er,  was  vor  ihm  liegt  und  was  hinter  ihm 
liegt.  Sechs  doppelte  Stunden  vollendete  er.  Dicht 
war  die  Finsternis,  es  gab  keinen  Schimmer  von  Licht; 
nicht  sieht  er,  was  vor  ihm  liegt  und  was  hinter  ihm 
liegt.  Sieben  doppelte  Stunden  vollendete  er.  Dicht 
war  die  Finsternis,  es  gab  keinen  Schimmer  von  Licht; 
nicht  sieht  er,  was  vor  ihm  liegt  und  was  hinter  ihm 
liegt.  Acht  doppelte  Stunden  hat  er  vollendet.  Laut 
schreit  er  auf.  Dicht  war  die  Finsternis,  es  gab  keinen 
Schimmer  von  Licht.  Nicht  läßt  die  Dunkelheit  sehen, 
was  vor  ihm  liegt  und  was  hinter  ihm  liegt.  Neun  dop- 
pelte Stunden  hat  er  vollendet,  da  fühlt  er  den  Nord- 
wind. Gebeugt  ist  seine  Gestalt,  vorwärts  gerichtet 
sein  Antlitz.  Dicht  war  die  Finsternis,  es  gab  keinen 
Schimmer  von  Licht.  Zehn  Doppelstunden  vollendete 
er;  das  Dunkel  läßt  nach,  das  Licht  ist  nahe!  Elf  Dop- 
pelstunden hat  er  vollendet.  Die  Schlucht  wird  brei- 
ter, er  sieht  den  ersten  Schimmer  der  Sonne.  Zwölf 
Doppelstunden  vollendete  er,  da  wurde  es  helle.  Und 
das  Licht  des  vollen  Tages  umfing  ihn  wieder. 

Vor  ihm  lag  der  Park  der  Götter;  er  sah  ihn.  Er 
geht  in  stürmischen  Schritten  auf  den  Garten  der  Götter 
zu.  Rubinen  sind  seine  Früchte,  rankende  Reben 
hängen  da,  wundervoll  anzuschauen;  Lapislazuli  trägt 
ein  anderer  Baum,  und  mancherlei  andere  Früchte, 
begehrenswert  anzusehen,  tragen  die  Bäume  des  Gar- 
tens. Lockend  glänzt  in  den  Strahlen  der  Sonne  der 
Garten.  Und  Gilgamesch  erhebt  seine  Hände  zum 
Sonnengotte  Schamasch: 

38 


„Lang  nnd  beschwerlich  war  meine  Wandrung!  Die 
Tiere  der  Wildnis  mußt  ich  erlegen,  in  ihre  Felle 
mußte  den  Leib  ich  hüllen,  und  ihr  Fleisch  war  meine 
Nahrung.  Durch  das  Bergtor  erhielt  ich  Einlaß  und 
machte  den  Weg  durch  der  Schluchten  grausige  Fin- 
sternis. Vor  mir  liegt  der  Garten  der  Götter,  dahinter 
das  weite  Meer.  Weise  mir  nun  den  Weg  zu  Utna- 
pischtim,  dem  Fernen!  Zeige  mir  nun  den  Schiffer, 
der  mich  sicher  dahinfährt  über  das  Weltmeer  und 
durch  die  Wasser  des  Todes,  damit  ich  das  Leben  er- 
kunde!" 

Schamasch  hörte  ihn  an,  er  wurde  bekümmert  und 
spricht  zu  Gilgamesch  also: 

„Gilgamesch,  wohin  läufst  du?  Das  Leben,  das  du 
suchst,  findest  du  nicht!" 

Gilgamesch  sagt  zu  ihm,  zum  hehren  Schamasch: 

„Über  die  Steppe  bin  ich  gezogen  im  Elend  der  Ein- 
samkeit, ein  Stern  nach  dem  andern  ging  unter,  und 
alle  Jahre  lag  ich  nachts  auf  dem  öden  Felde.  Nicht 
Sonne,  nicht  Mond,  keine  Sterne  erschienen  mir  in 
dem  finstern  Hohlweg.  Laß  meine  Augen  dich  sehen, 
Sonne,  daß  ich  mich  sättige  an  deiner  schönen  Helle! 
Die  Finsternis  ist  vergangen  und  ferne,  die  ganze  Fülle 
des  Lichts  umgibt  mich  wieder.  Wann  dürfte  wohl  der 
Sterbliche  schauen  ins  Auge  der  Sonne?  Soll  nicht 
auch  ich  das  Leben  suchen  und  das  Leben  finden  für 
alle  Tage?" 

Und  Schamasch  vernahm  seine  Worte  und  spricht 
zu  Gilgamesch: 

„Geh  zu  Siduri  Sabitu,  der  weisen  Frau  vom  Him- 
melsbcrge!  Auf  einem  Throne  sitzt  sie  im  Göttergar- 
ten am  Meere  und  hütet  den  Baum  des  Lebens.  Geh 


39 


hin  zu  dem  Garten,  der  vor  dir  liegt!  Sie  kann  dir 
weisen  den  Weg  zu  Utnapischtim,  dem  Fernen." 

Gilgamesch  hörte  die  Worte  und  machte  sich  auf 
den  Weg.  Vor  sich  sah  er  den  Garten  der  Götter.  In 
üppiger  Fülle  stehen  die  Zedern,  an  den  Bäumen 
prangt  edles  Gestein.  Wie  Meerestang  breitet  sich  aus 
unter  den  Bäumen  der  grüne  Smaragd,  wie  Dorn  und 
Distel  blüht  hier  der  Edelstein.  Saphir  ist  der  Same 
der  Frucht.  Gilgamesch  hemmt  seine  Schritte  und  hebt 
seine  Augen  auf  zum  Garten  der  Götter. 

Die  zehnte  Tafel 

Siduri  Sabitu,  die  Göttin,  hat  ihren  Thron  hoch  über 
dem  Ufer  des  Meeres.  Da  sitzt  sie  und  hütet  den 
Eingang  zum  Garten  der  Götter.  Einen  Gürtel  trägt 
sie,  fest  gebunden  über  den  Hüften.  Ihr  Leib  ist  ein- 
gehüllt in  ein  langes  Gewand. 

Suchend  läuft  Gilgamesch  hin  und  her,  dann  lenkt 
er  die  Schritte  zum  Tore.  Mit  Fellen  wilder  Tiere  ist 
er  bekleidet,  furchtbar  ist  seine  Gestalt,  göttergleich 
ist  sein  Leib.  Weh  ist  in  seinem  Herzen,  wie  ein 
Wandrer  ferner  Wege  sieht  er  aus. 

Sabitu  schaut  in  die  Ferne  und  spricht  zu  sich  selber 
und  sagt,  während  sie  Rat  hält  in  ihrem  Herzen:  „Ist 
etwa  der  da  einer,  der  in  den  Garten  der  Götter  will? 
Wo  geht  er  hin  mit  stürmischen  Schritten?"  Als  Sabitu 
ihn  näher  sah,  schloß  sie  ihr  Tor,  sie  verschließt  die 
Pforte  und  schiebt  den  Riegel  davor. 

Gilgamesch  war  entschlossen  hineinzudringen.  Er 
erhob  seine  Hand  und  legte  die  Axt  an  das  Tor.  Und 
Gilgamesch  sprach  zur  Göttin  Sabitu: 

40 


,,Sabitu,\vas  sahst  du,  daß  du  die  Pforte  mir  schließt? 
Dein  Tor  verschlössest  du  mir  und  schobst  den  Riegel 
davor.  Ich  zerschmeiße  die  Tür,  den  Riegel  zerbrech 
ich!" 

Sabitu  öffnet  das  Tor  und  redet  den  Gilgamesch  an 
am  Eingang  des  Gartens.  Sabitu  spricht  zu  ihm,  zu 
dem  Gilgamesch: 

„Warum  sind  deine  Wangen  so  abgezehrt?  Warum 
ist  deine  Stirne  düster  gefaltet?  W^arum  ist  so  betrübt 
deine  Seele  und  gebeugt  deine  Gestalt?  Warum  ist 
Weh  in  deinem  Herzen?  Wie  ein  Wandrer  ferner 
Wege  siehst  du  aus.  Von  Sturmwind  und  Sonne  bist 
du  gebräunt,  von  der  Mittagsglut  ist  dein  Gesicht  ver- 
brannt. Warum  bist  du  von  weither  über  die  Steppe 
geeilt?" 

Gilgamesch  sagt  zu  Sabitu,  der  Göttin: 

„Wie  sollten  nicht  abgezehrt  sein  die  Wangen,  nicht 
die  Stirne  düster  gefaltet?  Wie  sollte  nicht  meine  Seele 
bctrübtsein  und  nicht  gebeugt  meine  Gestalt?  Wie  sollte 
nicht  Weh  sein  in  meinem  Herzen?  Wie  sollte  ich  nicht 
einem  Wandrer  ferner  Wege  gleichen?  Wie  sollte  nicht 
von  Sturmwind  und  Sonne  gebräunt,  von  der  IMittags- 
glut  verbrannt  sein  mein  Antlitz?  Wie  sollte  ich  nicht 
weit  hinweg  über  die  Steppe  forteilen?  Mein  junger 
Bruder,  der  Panther  der  Steppe,  Enkidu,  mein  junger 
Freund,  der  alles  vermochte,  daß  wir  den  Zedernberg 
erstiegen,  daß  wir  den  Himmelsstier  packten  und  schlu- 
gen, den  Chumbaba  niederwarfen,  der  im  Zedernwald 
hauste,  daß  wir  Löwen  erlegten  in  Bergesschluchten, 
mein  Freund,  der  mit  mir  alle  Gefahren  und  Mühen 
teilte,  Enkidu,  den  ich  liebte,  gar  sehr  liebte,  -  ihn  er- 
reichte der  Menschen  Geschick.  Tag  und  Nacht  weinte 

41 


ich  um  ihn  und  legte  ihn  nicht  in  ein  Grab.  Ich  wartete 
und  gedachte,  mein  Freund  müßte  auferstehen  durch 
mein  Schreien.  Sieben  Tage  und  sieben  Nächte  lag  er 
da  wie  ein  zertretener  Wurm.  Ich  suchte  das  Leben 
und  fand  es  nicht  mehr.  So  jagte  ich  in  der  Steppe 
umher  gleich  einem  Manne  der  Wildnis.  Das  Schick- 
sal des  Freundes  lastet  so  schwer  auf  mir.  Wie  soll 
ich  es  nur  verschweigen?  Wie  soll  ich  es  nur  hinaus- 
schreien? Mein  Freund,  den  ich  liebe,  ist  zu  Staub  ge- 
worden, Enkidu,  mein  Freund,  ist  wie  der  Lehm  des 
Landes  geworden!  Werde  nicht  auch  ich  wie  er  mich 
zur  Ruhe  legen  müssen  und  nicht  wieder  aufstehen  in 
tlle  Ewigkeit?  Jetzt,  Sabitu,  blicke  ich  auf  dich  hin, 
damit  ich  den  Tod,  den  ich  fürchte,  nicht  schaue." 

Sabitu  spricht  zu  Gilgamesch  also: 

„Gilgamesch,  wohin  läufst  du?  Das  Leben,  das  du 
suchst,  wirst  du  nicht  finden.  Als  die  Götter  die  Men- 
schen schufen,  bestimmten  sie  den  Tod  für  die  Men- 
schen, das  Leben  behielten  sie  für  sich  selbst.  Drum, 
Gilgamesch,  -  iß  und  trink,  fülle  dir  deinen  Leib,  Tag 
und  Nacht  freue  dich  nur!  Mache  doch  jeden  Tag  dir 
ein  Freudenfest!  Freue  dich  Tag  und  Nacht  bei  Har- 
fen, Flöten  und  Tanz!  Ziehe  reine  Kleider  dir  an, 
wasche  und  salbe  dein  Haupt  und  bade  den  Leib  in 
frischem  Wasser!  Sieh  froh  die  Kinder  an,  die  deine 
Hand  erfassen!  Freue  dich  in  den  Armen  des  Weibes! 
Drum  kehre  zurück  nach  Uruk,  in  deine  Stadt,  als  der 
gepriesene  König  und  Held!" 

Doch  Gilgamesch  sagt  zu  ihr,  zu  Sabitu: 

„Genug,  Sabitu,  zeige  den  Weg  mir  zu  Utnapischtim! 
Gib  mir  Weisung,  daß  ich  zu  ihm  gelange !  Wie  komme 
ich  hin  zu  ihm?  Weise  es  mir!  Wenn  es  angeht,  will 

42 


ich  über  das  Meer  hinüberfahren,  wenn  es  nicht  mög- 
lich ist,  will  ich  am  Ufer  hin  weitereilen!" 

Sabitu  spricht  zu  ihm,  zu  dem  Gilgamesch: 

„Keine  Stelle  gibt  es  an  diesem  Meer,  von  der  einer 
glücklich  hinüberfuhr,  um  glücklich  zu  landen.  Keiner, 
der  seit  der  Vorzeit  Tagen  hierher  kam,  konnte  über 
das  Meer  hinüber.  Wohl  fährt  über  das  Meer  Scha- 
masch, der  gewaltige  Held,  doch  außer  dem  Sonnen- 
gott, -wer  geht  da  hinüber?  Schwierig  ist  die  Überfahrt 
über  das  Weltmeer,  schwierig  der  Weg  bis  zu  den 
Wassern  des  Todes,  die  vor  dem  fernen  Jenseits  Hegen. 
Wie  willst  du,  Gilgamesch,  über  das  Meer  gelangen? 
Kommst  du  selbst  bis  zu  den  Wassern  des  Todes,  - 
was  willst  du  dann  tun?  -  Doch  siehe,  es  ist  da  Ur- 
Schanabi,  der  Schiffer  des  Utnapischtim,  dort  wo  die 
Steinkisten  liegen!  Eben  ging  er  zum  Walde,  er  pflückt 
sich  Kräuter  und  Beeren.  Suche  ihn  auf!  Wenn  es 
angeht,  dann  fahre  mit  ihm  hinüber,  wenn  es  nicht 
möglich  ist,  kehr  wieder  um!" 

Als  Gilgamesch  dieses  hörte,  erhob  er  die  Axt  und 
hing  die  Wafle  in  seinen  Gürtel.  Er  machte  sich  auf 
den  Weg  und  ging  hinab  zum  Ufer  des  Meeres.  Wie 
ein  Wurfspeer  fiel  das  Tor  des  Göttergartens  zwischen 
ihn  und  die  Göttin. 

Gilgamesch  sieht  in  die  Ferne,  an  der  Mündung 
der  Ströme  erblickt  er  ein  Schiff.  Dahin  lenkt  er 
die  Schritte,  zum  Fährschiff  des  Utnapischtim.  Er 
schaut  aus  nach  dem  Schiflier,  der  ihn  sicher  führe 
über  das  weite  Meer  und  über  die  Wasser  des  Todes. 
Er  kommt  zu  dem  Fluß  und  hemmt  seinen  Schritt. 
Da  liegt  das  Schiff;  er  eüt  am  Ufer  entlang,  doch 
den  Schilfer  findet  er  nicht.  Nur  Kisten,  mit  Steinen 

43 


gerüllt,  sieht  er  da  liegen.  Er  geht  in  den  Wald  und 
ruft: 

„Fährmann,  ich  suche  dich !  Bringe  mich  sicher  über 
das  Meer  und  über  die  Wasser  des  Todes!" 

Er  ruft  laut,  doch  keine  Antwort  vernimmt  er.  Gil- 
gamesch  kehrt  zurück  zu  den  Kisten  und  zerbricht  sie 
in  seinem  Zorn.  - 

Er  macht  sich  auf  und  kehrt  zum  Walde  zurück. 
Seine  Augen  schauen  den  Ur-Schanabi,  und  er  tritt 
zu  ihm  hin.  Ur-Schanabi  sagt  zu  ihm,  zu  dem  Gilga- 
mesch : 

„Nenne  mir  deinen  Namen,  sage  ihn  mir!  Ich  bin  Ur- 
Schanabi,  der  Schiffer  des  Utnapischtim,  des  Fernen." 

Gilgamesch  spricht  zu  ihm,  zu  Ur-Schanabi: 

„Gilgamesch  ist  mein  Name.  Ich  bin  hergekommen 
vom  Länderberge  des  Anu;  einen  fernen  Weg  bin  ich 
gewandert  vom  Aufgang  der  Sonne  her.  Jetzt,  Ur- 
Schanabi,  erblick  ich  dich  endlich.  Laß  mich  schauen 
Utnapischtim,  den  Fernen!" 

Ur-Schanabi  spricht  zu  dem  Gilgamesch: 

„Warum  sind  deine  Wangen  so  abgezehrt?  Warum 
ist  deine  Stirne  düster  gefaltet?  Warum  ist  so  betrübt 
deine  Seele  und  gebeugt  deine  Gestalt?  Warum  ist 
Weh  in  deinem  Herzen?  Wie  ein  Wandrer  ferner  Wege 
siehst  du  aus.  Von  Sturmwind  und  Sonne  bist  du  ge- 
bräunt, von  der  Mittagsglut  ist  dein  Gesicht  verbrannt. 
Warum  bist  du  von  weither  über  die  Steppe  geeilt?" 

Gilgamesch  sagt  zu  ihm,  zu  Ur-Schanabi,  dem 
Schiffer: 

„Warum  sollten  nicht  abgezehrt  sein  die  Wangen, 
nicht  die  Stirne  düster  gefaltet?  Wie  sollte  nicht 
meine  Seele  betrübt  sein  und  nicht  gebeugt  meine  Ge- 

44 


stalt?  Wie  sollte  nicht  Weh  sein  in  meinem  Herzen? 
Wie  sollte  ich  nicht  einem  Wandrer  ferner  Wege  glei- 
chen? Wie  sollte  nicht  von  Sturmwind  und  Sonne  ge- 
bräunt, von  der  Mittagsglut  verbrannt  sein  mein  Ant- 
litz? Wie  sollte  ich  nicht  weit  hinweg  über  die  Steppe 
forteilen?  Mein  junger  Bruder,  der  Panther  der  Steppe, 
Enkidu,  mein  junger  Freund,  der  alles  vermochte,  daß 
wir  den  Zedernberg  erstiegen,  daß  wir  den  Himmelsstier 
packten  und  schlugen,  den  Chumbaba  niederwarfen, 
der  im  Zedernwald  hauste,  daß  wir  Löwen  erlegten  in 
Bergesschluchten,  mein  Freund,  der  mit  mir  alle  Gefah- 
ren und  Mühen  teilte,  Enkidu,  den  ich  liebte,  gar  sehr 
liebte,  -  ihn  erreichte  der  Menschen  Geschick.  Sechs 
Tage  und  sechs  Nächte  weinte  ich  um  ihn  und  legte 
ihn  nicht  in  ein  Grab.  Ich  lernte  den  Tod  fürchten,  so 
eilte  ich  über  die  Steppe  dahin.  Das  Schicksal  des 
Freundes  lastet  so  schwer  auf  mir.  Darum  komm  ich 
von  ferne  her,  hinter  mir  habe  ich  einen  weiten  Weg. 
Wie  soll  ich  es  nur  verschweigen?  Wie  soll  ich  es 
nur  hinausschreien?  Mein  Freund,  den  ich  liebe,  ist 
Staub  geworden,  Enkidu,  mein  Freund,  ist  wie  der 
Lehm  des  Landes  geworden!  Werde  nicht  auch  ich 
wie  er  mich  niederlegen  müssen  und  nicht  wieder  auf- 
stehen in  alle  Ewigkeit?" 

Und  Gilgamesch  spricht  zu  Ur-Schanabi,  dem 
Schiller: 

„Nun,  Ur-Schanabi,  wie  komm  ich  zu  Utnapisch- 
tim?  Gib  mir  Weisung,  wie  ich  zu  ihm  gelange!  Zeige 
mir  den  geheimen  Weg!  Wenn  es  angeht,  will  ich  das 
Meer  überqueren,  wenn  es  nicht  möglich  ist,  will  ich 
am  Ufer  hin  weitercilen!" 

Ur-Schanabi,  der  Schiffer,  sagte  zu  ihm: 

45 


„Deine  Hände,  Gilgamesch,  haben  die  glückliche 
Landung  verhindert;  du  zerbrachst  die  Kisten  dort,  den 
Übergang  über  die  seichte  Stelle  der  strömenden 
Wasser  des  Todes  hast  du  selbst  dir  zerstört.  Die  Stein- 
kisten sind  zerbrochen,  so  kann  ich  dich  nicht  mehr 
zur  Insel  des  Lebens  hinübergeleiten.  -  Doch,  Gilga- 
mesch, nimm  die  Axt  deiner  Seite,  mache  dich  auf, 
geh  hin  zum  Walde  und  fälle  hundertundzwanzig 
Stämme,  so  daß  jede  Stange  sechzig  Ellen  beträgt» 
Haue  sie  ab,  spitze  sie  zu  und  bringe  sie  zu  mir!" 

Als  Gilgamesch  dies  hörte,  nahm  er  die  Axt  seiner 
Seite,  ging  in  den  Wald  und  fällte  hundertundzwanzig 
Stämme,  hieb  sie  zurecht,  so  daß  jede  Stange  sechzig 
Ellen  betrug,  und  spitzte  sie  zu.  Er  legt  sie  zusammen 
und  bringt  sie  zu  Ur-Schanabi. 

Sie  bestiegen  das  Schiff,  mit  den  Stämmen  beladen, 
brachten  es  in  die  wogenden  Fluten  und  segelten  blitz- 
schnell dahin.  Einen  Monat  und  fünfzehn  Tage  lang 
ist  die  Strecke.  Siehe  da,  schon  am  dritten  Tag  erreichte 
Ur-Schanabi  die  Wasser  des  Todes. 
Ur-Schanabi  sagt  zu  ihm,  zu  dem  Gilgamesch: 
„Einen  der  Stämme  ramme  nun  ein  mit  der  Axt, 
fest  in  den  Grund!  Die  Wasser  des  Todes  darf  deine 
Hand  nicht  berühren,  sonst  stirbst  du.  Nimm  einen 
zweiten  Stamm  her  und  stoße  ihn  fest  in  den  Grund! 
Einen  dritten  her,  Gilgamesch!  Hau  ihn  ein! 

Den  vierten  her,  Gilgamesch!  Hau  ihn  ein! 

Den  fünften  her,  Gilgamesch!  Hau  ihn  ein! 

Den  sechsten  her,  Gilgamesch!  Hau  ihn  ein! 

Den  siebenten  her,  Gilgamesch!  Hau  ihn  ein! 

Den  achten  her,  Gilgamesch!  Hau  ihn  ein! 

Den  neunten  her,  Gilgamesch!  Hau  ihn  ein! 

4<5 


Den  zehnten  her,  Gilgamesch!  Hau  ihn  ein! 

Den  elften  her,  Gilgamesch!  Hau  ihn  ein! 

D en  zwöl  ften  her,  Gilgamesch !  Hau  ihn  ein ! " 

Hundertundzwanzig  Stämme  hat  Gilgamesch  endlich 
verbraucht.  Nun  löst  er  den  Gürtel  über  der  Hüfte, 
^X^irft  das  Löwenfell  ab  und  hebt  mit  kräftiger  Hand 
den  Mastbaum  heraus. 

Utnapischtim  schaut  in  die  Ferne  und  spricht  zu 
sich  selbst  und  sagt,  während  er  Rat  hält  in  seinem 
Herzen:  „Warum  sind  die  Steinkisten  des  Schiffes  ver- 
schwunden? Und  einer,  der  nicht  meine  Ermächtigung 
hat,  fährt  in  dem  Schiffe!  Der  da  kommt,  kann  doch 
nicht  ein  Mensch  sein!?  Ich  schaue  hin:  ist  das  nicht 
ein  Mensch?  Ich  schaue  hin:  ist  das  nicht  ein  Mann? 
Ich  schaue  hin:  ist  das  nicht  ein  Gott?  Er  gleicht  mir 
durchaus.  -  Mit  wuchtiger  Hand  rammt  er  die  Pfahle 
ein  in  die  reißenden  Wasser  des  Todes,  so  daß  sie  die 
Kisten  mit  Steinen  ersetzen,  die  Ur-Schanabi  gewöhn- 
lich hinabließ.  Nun  ziehen  sie  sicher  das  Boot  an  den 
Pfählen  entlang  hinüber.  Bald  sind  sie  am  Ufer  der 
Insel.  Aber  die  Pfähle  sind  alle  verbraucht.  Da  hebt 
der  Fremdling  den  Mastbaum  empor,  teilt  ihn  durch 
mit  der  Axt,  stößt  die  beiden  Stämme  ins  Wasser,  und 
mit  kräftigem  Ruck  ist  das  Boot  ans  Ufer  gebracht." 

Utnapischtim  steigt  vom  Hause  herab  und  eilt  auf 
den  Fremden  zu;  und  Utnapischtim  spricht  zu  Gilga- 
mesch: 

„Nenne  mir  deinen  Namen,  sage  ihn  mir!  Ich  bin 
Utnapischtim,  der  das  Leben  gefunden  hat." 

Gilgamesch  spricht  zu  ilim,  zum  seligen  Utna- 
pischtim: 


4T 


„Gilgamesch  ist  mein  Name.  Ich  bin  hergekommen 
vom  Länderberge  des  Anu.  Einen  fernen  Weg  bin 
ich  gewandert  vom  Aufgang  der  Sonne  her.  Jetzt 
schaue  ich  endlich  dich,  Utnapischtim,  den  Fernen!" 

Utnapischtim  sagt  zu  ihm: 

^Warum  sind  deine  Wangen  so  abgezehrt?  Warum 
ist  deine  Stirne  düster  gefaltet?  Warum  ist  so  betrübt 
deine  Seele  und  gebeugt  deine  Gestalt?  Warum  ist 
Weh  in  deinem  Herzen?  Wie  ein  Wandrer  ferner 
Wege  siehst  du  aus.  Von  Sturmwind  und  Sonne  bist 
du  gebräunt,  von  der  Mittagsglut  ist  dein  Gesicht  ver- 
brannt. Warum  bist  du  von  weither  über  die  Steppe 
geeilt?" 

Gilgamesch  sagt  zu  ihm,  zu  Utnapischtim,  dem 
Fernen: 

„Warum  sollten  nicht  abgezehrt  sein  die  Wangen, 
nicht  die  Stirne  düster  gefaltet?  Wie  sollte  nicht  meine 
Seele  betrübt  sein  und  nicht  gebeugt  meine  Gestalt? 
Wie  sollte  nicht  Weh  sein  in  meinem  Herzen?  Wie 
sollte  ich  nicht  einem  Wandrer  ferner  Wege  gleichen? 
Wie  sollte  nicht  von  Sturmwind  und  Sonne  gebräunt, 
von  der  Mittagsglut  verbrannt  sein  mein  Antlitz?  Wie 
sollte  ich  nicht  weit  hinweg  über  die  Steppe  forteilen? 
Mein  junger  Bruder,  der  Panther  der  Steppe,  Enkidu, 
mein  junger  Freund,  der  alles  vermochte,  daß  wir  den 
Zedernberg  erstiegen,  daß  wir  den  Himmelsstier  pack- 
ten und  schlugen,  den  Chumbaba  niederwarfen,  der 
im  Zedernwald  hauste,  daß  wir  Löwen  erlegten  in 
Bergesschluchten,  mein  Freund,  der  mit  mir  alle  Ge- 
fahren und  Mühen  teilte,  Enkidu,  den  ich  liebte,  gar 
sehr  liebte,  -  ihn  erreichte  der  Menschen  Geschick. 
Sechs  Tage  und  sechs  Nächte  weinte  ich  um  ihn  und 

48 


legte  ihn  nicht  in  ein  Grab.  Ich  lernte  den  Tod  fürch- 
ten, so  eilte  ich  über  die  Steppe  dahin.  Das  Schicksal 
des  Freundes  lastet  so  schwer  auf  mir.  Darum  komm 
ich  von  ferne  her,  hinter  mir  habe  ich  einen  weiten 
Weg.  Wie  soll  ich  es  nur  verschweigen?  Wie  sollich 
es  nur  hinausschreien?  Mein  Freund,  den  ich  liebe,  ist 
Staub  geworden,  Enkidu,  mein  Freund,  ist  wie  der 
Lehm  des  Landes  geworden!  Werde  nicht  auch  ich 
wie  er  mich  zur  Ruhe  legen  müssen  und  nicht  wieder 
aufstehen  in  alle  Ewigkeit?" 
Und  Gilgamesch  spricht  zu  Utnapischtim: 
„Ich  dachte,  ich  will  nun  gehen  zu  Utnapischtim, 
dem  Fernen;  den  selig  Gepriesenen,  der  das  Leben  ge- 
funden hat,  will  ich  sehen.  So  zog  ich  aus  und  w^an- 
derte  durch  die  Länder,  so  zog  ich  über  Berge,  die 
schwer  sind  zu  überschreiten,  so  fuhr  ich  über  Ströme 
und  Meere.  Nicht  habe  ich  mich  zufrieden  am  guten 
Glücke  gesättigt,  ich  trank  mich,  satt  in  Leid;  Weh  war 
meine  Nahrung.  Zu  der  Sabitu  war  ich  noch  nicht  ge- 
langt, da  war  meine  Kleidung  längst  dahin.  Wildvogel, 
Steinbock,  Hirsch  und  Gazelle  mußte  ich  jagen,  ihr 
Fleisch  zu  essen;  den  Löw^n,  den  Panther,  den  Wü- 
stenhund mußte  mein  Speer  erlegen,  ihre  Felle  mußten 
mich  kleiden.  Mögen  die  Totengeister  ihr  Tor  nur 
verriegeln,  mit  Erdpech  und  Steinen  verrammeln!  Ich 
will  die  Geister  des  Todes  vernichten,  nicht  länger 
soll  ihr  Jubel  währen!  Utnapischtim,  künde  du  mir  das 
Leben!  Du  hast  das  Leben  gewonnen." 
Utnapischtim  spricht  zu  ihm,  zu  dem  Gilgamesch: 
„Laß  die  Klage  und  laß  den  Zorn!  Götter  und  Men- 
schen haben  verschiedenes  Los.  Als  einen  Menschen 
erzeugten  dich  Vater  und  Mutter.  Wenn  auch  zwei 


203 


49 


Drittel  von  dir  göttlicher  Art  sind,  ein  Drittel  ist 
Mensch  und  zieht  dich  hinein  ins  Schicksal  der  Men- 
schen. Nicht  ein  ewiges  Leben  ist  den  Menschen  be- 
stimmt. Grimmig  ist  der  Tod,  er  setzt  allem  Leben  ein 
Ziel.  Bauen  wir  Häuser  auf  immerdar?  Siegeln  wir 
Verträge  für  ewig?  Teilen  Brüder  ewig  das  Erbe? 
Genießt  der  Mensch  ewig  die  Freuden  der  Zeugung? 
Trägt  der  Fluß  alle  Tage  die  Hochflut  empor  und  bringt 
dem  Land  Überschwemmung?  Sieht  der  Kulilu-  und 
der  Kirippa-Vogel  immer  das  Frühjahr,  sieht  sein  Auge 
das  Antlitz  der  Sonne  für  immer?  Von  der  Tage  An- 
beginn her  gibt  es  keine  Dauer.  Gleichen  sich  nicht 
das  neugeborene  Kind  und  der  Tote?  Sind  sie  nicht 
beide  mit  Zügen  des  Todes  gezeichnet?  Wenn  der 
Aufpasser  und  der  Zuriegler  aus  der  Unterwelt  die 
Seele  ans  Licht  läßt,  und  den  Neugebornen  die  Sonne 
begrüßt,  dann  versammeln  sich  allzugleich  die  gewal- 
tigen Anunnaki,  die  großen  Geister,  und  die  Mametum, 
die  schicksalschaffende  Göttin,  und  sie  bestimmen  zu- 
sammen des  Menschen  Geschick.  Sie  bestimmen  des 
Lebens  Tage,  aber  des  Todes  Tage  zählen  sie  nicht." 

Die  elfte  Tafel 

Gilgamesch  spricht  zu  ihm,  zu  Utnapischtim,  dem 
Fernen: 
„Ich  schaue  dich  an,  Utnapischtim,  du  bist  nicht 
größer  und  breiter  als  ich,  du  gleichst  mir  wie  ein  Vater 
dem  Sohne.  Du  bist  nicht  anders  beschaffen  wie  ich, 
ein  Mensch  wie  ich  bist  auch  du.  Doch  ich  bin  ruhe- 
los; Kampf  zu  führen  bin  ich  geschaffen.  Du  aber  bist 
dem  Kampfe  entrückt,  liegst  ruhig:  auf  deinem  Rücken. 

50 


Wie  kamst  du  denn  nur  hinein  in  die  Versammlung  der 
Götter,  suchtest  und  fandest  das  Leben?" 

Utnapischtim  spricht  zu  ihm: 

„Ich  will  dir  eröffnen,  Gilgamesch,  eine  verborgene 
Geschichte,  und  ein  Geheimnis  der  Götter  will  ich  dir 
künden.  Schurippak  ist  eine  Stadt  -  du  selber  kennst 
sie  -,  am  Euphrat  gelegen.  Es  ist  eine  alte  Stadt,  lange 
Zeit  waren  die  Götter  ihr  gnädig.  Da  faßten  die  Göt- 
ter den  Plan,  eine  Sturmflut  herbeizuführen.  In  der 
Ratsversammlung  hat  auch  Ea,  der  Gott  der  Tiefe,  ge- 
sessen. Meinem  Rohrhaus  erzählte  er  den  Ratschluß 
der  Götter: 

,Rohrhaus,  Rohrhaus!  Wand,  Wand!  Rohrhütte, 
höre!  Wand,  vernimm!  Du  Mann  aus  Schurippak,  Ut- 
napischtim, Sohn  des  Ubara-Tutu,  baue  ein  Holzhaus, 
errichte  es  in  einem  Schiff!  Laß  Reichtum  fahren, 
suche  Leben,  verachte  Besitz,  rette  das  Leben!  Bring 
Lebenssamen  von  jeder  Art  in  das  Schiff!  In  gutem 
Verhältnis  seien  Länge  und  Breite!  Baue  das  Schiff 
sogleich!  Bring  es  zum  Süßwassermeer  und  versieh  es 
mit  einem  Dach!'  Ich  begriff;  und  ich  sage  zu  Ea, 
dem  Gott,  meinem  Herrn:  ,Ich  werde  tun,  Herr,  was 
du  befiehlst,  in  Ehrfurcht  werde  ich  deinen  Geboten 
folgen.  Was  aber  soll  ich  der  Stadt,  dem  Volk  und  den 
Ältesten  sagen?'  Ea  tat  seinen  Mund  auf  und  sprach 
zu  seinem  Knechte,  zu  mir:  ,Du  Menschenkind,  so 
sollst  du  zu  ihnen  sprechen:  der  große  Gott  Bei  siebet 
mich  scheel  an,  deshalb  will  ich  in  eurer  Stadt  nicht 
wohnen  bleiben,  das  Land  des  Bei  will  ich  nicht  mehr 
sehen.  Hinab  zum  Süßwassermeer  will  ich  ziehen,  um 
bei  Ea  zu  wohnen,  der  mir  ein  gnädiger  Herr  ist.  Er 
aber  wird  euch  segnen  mit  allerlei  Reichtum/ 

51 


Als  der  erste  Schimmer  des  Morgens  erglänzte, 
machte  ich  alles  bereit.  Ich  zog  zum  Süßvvassermeer, 
schaffte  das  Holz  und  Teer  herbei,  entwarf  den  Plan 
des  Schiffes  und  zeichnete  es  mir  auf  All  mein  Ge- 
sinde, Starke  und  Schwache  legten  die  Hand  an  dos 
Werk.  Im  Monat  des  großen  Schamasch  wurde  das 
Schiff  vollendet.  Was  ich  besaß,  lud  ich  auf;  ich  lud 
auf  Silber  und  Gold,  ich  lud  auf  Lebenssamen  jeglicher 
Art.  Meine  ganze  Familie  und  nächste  Verwandtschaft 
Heß  ich  gehen  aufs  Schiff  Das  Großvieh  und  das 
kleine  Getier  bracht  ich  hinein.  Handwerker  einer 
jeglichen  Kunst  Heß  ich  hineingehen. 

Einen  Zeitpunkt  hatte  der  Gott  mir  gegeben:  ,Am 
Abend,  wann  die  Herrscher  der  Finsternis  herabströ- 
men lassen  furchtbaren  Regen,  dann  tritt  in  das  Schiflf 
und  verschließe  die  Tür!'  Es  kam  die  Zeit,  da  ließen 
die  Herrscher  der  Finsternis  einen  furchtbaren  Regen 
niedergehen.  Ich  sah  das  Wetter  mir  an,  das  Wetter 
war  furchtbar  anzuschauen.  Ich  ging  hinein  in  das 
Schiff  und  verschloß  die  Tür.  Dem  Steuermann  über- 
gab ich  das  riesige  Boot.  Als  der  Morgen  erschien, 
stieg  rabenschwarzes  Gewölk  auf  AHe  bösen  Geister 
wüteten,  alle  Helligkeit  war  verwandelt  in  Finsternis. 
Es  brauste  der  Südsturm,  die  Wasser  brausten  dahin, 
die  Wasser  erreichten  schon  das  Gebirge,  die  Wasser 
fielen  her  über  aHe  Leute.  Ein  Bruder  erkannte  nicht 
mehr  seinen  Bruder.  Die  Götter  selbst  bekamen  Furcht 
vor  der  Sturmflut,  flohen  und  stiegen  zum  Himmels- 
berge des  Anu  hinauf  Niedergeduckt  wie  Hunde 
kauerten  nun  die  Götter  da.  Ischtar  schreit  wie  ein 
Weib  bei  schwerer  Geburt,  es  heult  die  schöne  Stimme 
der  herrlichen  Göttin:  ,Das  schöne  Land  der  vorigen 

5« 


Zeit  ist  zu  Schlamm  geworden,  weil  ich  in  der  Ver- 
sammlung der  Götter  den  bösen  Rat  gab!  Wie  konnte 
ich  nur  so  Böses  in  der  Versammlung  der  Götter  be- 
fehlen? Wie  konnte  ich  nur  all  meine  Menschen  ver- 
nichten? Wie  das  Getümmel  der  Schlacht  rafft  die 
Flut  sie  dahin.  Ließ  ich  darum  die  Menschen  erzeugt 
und  geboren  werden,  daß  sie  nun  wie  die  Brut  der 
Fische  das  Meer  erfüllen!?*  Und  alle  Götter  weinen 
mit  ihr,  die  Götter  sitzen  niedergebeugt  und  weinen. 
Die  Qual  ihres  Schmerzes  verschließt  ihnen  die  Lippen. 

Sechs  Tage  und  sechs  Nächte  rauschte  der  Regen 
nieder  wie  Wasserbäche.  Am  siebenten  Tag  ließ  die 
Sturmflut  nach;  es  war  eine  Stille  wie  nach  der  Schlacht. 
Das  Meer  wurde  ruhig,  und  der  Sturm  des  Unheils 
ward  still.  Ich  blickte  aus  nach  dem  Wetter,  da  war  es 
gar  stille  geworden.  Alle  Menschen  waren  zu  Schlamm 
geworden.  Ein  ödes  Einerlei  war  der  Boden  der  Erde. 
Ich  öffnete  eine  Luke,  und  das  Licht  strahlte  mir  ins 
Gesicht.  Ich  warf  mich  nieder;  ich  setze  mich  hin  und 
weine,  ich  weine,  und  meine  Tränen  strömen  herab 
über  mein  Gesicht.  Ich  blickte  hin  auf  die  weiten 
Wasseröden.  Laut  schrie  ich,  daß  alle  Menschen  um- 
gekommen waren. 

Nach  zwölf  Doppelstunden  steigt  eine  Insel  auf  Es 
trieb  das  Schiff  nach  dem  Berge  Nissir.  Das  Schiff 
lief  auf  und  blieb  fest  sitzen  auf  dem  Berge  Nissir. 
Sechs  Tage  hielt  der  Berg  das  Schiff  und  ließ  es  nicht 
mehr  schwanken;  als  der  siebente  Tag  herbeikam,  hielt 
ich  eine  Taube  hinaus  und  ließ  sie  los.  Die  Taube  flog 
fort  und  kam  zurück.  Sie  fand  keine  Ruhestätte,  so 
kehrte  sie  um.  Ich  hielt  eine  Schwalbe  hinaus  und  ließ 
sie  los.  Die  Schwalbe  flog  fort  und  kam  zurück.  Sie 

53 


fand  keine  Ruhestätte,  so  kehrte  sie  um.  Ich  hielt 
einen  Raben  hinaus  und  ließ  ihn  los.  Der  Rabe  flog 
fort,  sah  das  Wasser  versiegen;  er  frißt,  scharrt,  krächzt 
und  kehrte  nicht  um.  Da  ließ  ich  alle  hinaus  nach  allen 
vier  Winden  und  brachte  ein  Lamm  zum  Opfer  dar, 
Opferkörner  streute  ich  aus  auf  dem  Gipfel  des  Berges, 
verbrannte  Zedernholz  und  Myrthe.  Die  Götter 
rochen  den  Duft;  angenehm  stieg  den  Göttern  der 
Duft  in  die  Nase.  Wie  Fliegen  sammelten  sich  die 
Götter  über  dem  Opfer. 

Als  die  Herrin  der  Götter  herbeikam,  hob  sie  die 
großen  Edelsteine  empor,  die  der  Himmelsgott  Anu 
ihr  zum  Schmuck  hatte  fertigen  lassen:  ,Ihr  Götter 
alle!  So  wahr  ich  den  Edelsteinschmuck  meines  Halses 
niemals  vergesse,  will  ich  an  diese  Tage  denken  und 
sie  für  alle  Zukunft  niemals  vergessen!  Mögen  die 
Götter  alle  zum  Opfer  kommen,  Bei  soll  nicht  kom- 
men zum  Opfer!  Ohne  zu  überlegen  hat  er  die  Sturm- 
flut herbeigeführt  und  meine  Menschenkinder  bestimmt 
zum  Gericht  des  Verderbens.*  Der  große  Bei  kam  her- 
bei, er  sah  das  SchiflT,  da  ergrimmte  Bei,  wurde  zornig 
über  die  Götter:  ,Was  für  ein  lebendiges  Wesen  ist 
da  entkommen?  Kein  Mensch  sollte  leben  bleiben  bei 
meinem  Strafgericht!'  Ninib,  der  Streiter  unter  den 
Göttern,  tat  seinen  Mund  auf  und  sprach,  er  sagt  zum 
gewaltigen  Bei:  ,Wer  tut  außer  Ea  weise  Dinge?  Ea 
versteht  doch  jede  Sache,  ist  voller  Einsicht!'  Ea,  der 
Gott  der  Tiefe,  tat  seinen  Mund  auf  und  sprach,  er 
sagt  zum  gewaltigen  Bei:  ,Du  Herrschergott,  du  Ge- 
waltiger, wie  konntest  du  nur  so  unbedachtsam  die 
Sturmflut  erregen?  Den,  der  Sünde  tut,  laß  seine  Sünde 
tragen!    Den,  der  Frevel  verübt,  laß  seinen  Frevel 

54 


büßen!  Doch  siehe  zu,  daß  nicht  alle  vernichtet  wer- 
den; die  Bösen  strafe,  daß  du  nicht  alle  vertilgest! 
Anstatt  daß  du  eine  Sturmflut  erregtest,  hätte  sich  doch 
ein  Löwe  erheben  und  die  Menschen  vermindern 
können.  Anstatt  daß  du  eine  Sturmflut  brachtest,  hät- 
test du. sonst  ein  Untier  schicken  und  die  Menschen 
vermindern  können.  Anstatt  der  Weltflut  hätte  eine 
Hungersnot  kommen  und  das  Land  demütigen  können. 
Ich,  ich  habe  nicht  das  Geheimnis  der  großen  Götter 
verraten;  den  „Sehr-Klugen"  ließ  ich  Traumbilder 
sehen,  und  so  erriet  er  der  Götter  geheimen  Plan.  Nun 
habt  ihr  das  Nachsehen!' 

Ea  stieg  hinein  in  das  Schiflf,  nahm  meine  Hände, 
führte  mich  und  mein  Weib  aufs  Land  und  ließ  mein 
Weib  niederknien  an  meiner  Seite,  trat  in  die  Mitte 
vor  uns  hin,  legte  die  Hände  auf  uns  und  segnete  uns: 
,Bisher  war  Utnapischtim  ein  sterblicher  Mensch;  jetzt 
soll  Utnapischtim  und  sein  Weib  uns  gleich  sein,  und 
Utnapischtim  soll  in  der  Ferne  wohnen,  am  Meere,  da 
wo  die  Ströme  münden.*  Also  entrückten  die  Götter 
mich  und  ließen  mich  fern  an  der  Mündung  der  Ströme 
wohnen. 

Nun  aber,  wer  von  den  Göttern  wird  sich  deiner 
erbarmen,  dich  zu  den  Göttern  versammeln,  daß  du 
das  Leben  findest,  das  du  suchst?  Versuche  doch 
einmal  nicht  zu  schlafen,  sechs  Tage  und  sechs 
Nächte!" 

Kaum  hat  sich  Gilgamesch  hingesetzt,  da  weht  em 
Schlaf  ihn  an  wie  ein  starker  Wind.  Utnapischtim  sagt 
zu  ihr,  zu  dem  Weibe: 

„Sieh  doch  den  Starken,  der  das  Leben  verlangte, 
der  Schlaf  weht  ihn  an  wie  ein  Wind!" 


55 


Sein  Weib  spricht  zu  ihm,  zu  Utnapischtim,  dem 
Fernen: 

„Rühre  ihn  an,  damit  er  wach  sei!  Laß  ihn  auf  dem 
Wege,  den  er  geivommen,  gesund  zurückgelangen, 
durch  das  Tor,  durch  das  er  hinausgegangen,  möge  er 
wieder  heimkehren  in  sein  Land!" 

Utnapischtim  sagt  zu  ihr,  zu  dem  Weibe: 
„Ach,  du  hast  Mitleid  mit  dem  Menschen!  Backe 
Brote  für  ihn  und  lege  sie  hin  zu  seinem  Haupte!" 

Als  er  nun  an  der  Wand  des  Schiffes  schlafend  nie- 
dersank, buk  sie  Brote  für  ihn  und  legte  sie  hin  zu 
seinem  Haupte.  An  die  Wand  des  Schiffes  gelehnt  lag 
Gilgamesch  da,  Utnapischtim  sprach  zu  ihm,  dem 
Schlafenden: 

„Von  einem  Brot  ist  der  Teig  gemengt. 

Ein  zweites  Brot  ist  geknetet, 

Ein  drittes  Brot  ist  angefeuchtet. 

Ein  viertes  ist  mit  Mehl  bestäubt  und  in  den  Ofen 

geschoben, 
Ein  fünftes  Brot  ist  braun  geworden. 
Ein  sechstes  ist  beinah  . . .  ." 
da  rührt  er  ihn  plötzlich  an,  und  es  erwacht  der  fremde 
Mensch.    Gilgamesch  sagt  zu  ihm,  zu  Utnapischtim, 
dem  Fernen: 

„In  der  Ermattung  ward  ich  vom  Schlafe  überwäl- 
tigt, wie  ein  Starker  kam  der  Schiaf  über  mich.  Schnell 
rührtest  du  mich  an  und  wecktest  mich  auf." 
Utnapischtim  sagte  zu  ihm: 
„Sechs  Brote  waren  gebacken,  da  schliefst  du  schon 
fest;  die  Brote  sollten  dich  wach  erhalten." 

Gilgamesch  sagt  zu  ihm,  zu  Utnapischtim,  dem 
Fernen: 

56 


„Was  soll  ich  nun  tun,  Utnapischtim?  Wohin  soll 
ich  mich  wenden?  Der  Schlaf  hat  mich  gepackt  wie 
ein  Räuber;  in  meinem  Schlaf  sitzt  der  Tod.  In  meinem 
Gemach  und  wo  ich  auch  weile,  sitzt  er,  der  Tod!" 

Utnapischtim  sprach  zu  Ur-Schanabi,  dem  Schiffer: 

„Ur-Schanabi,  mein  Ufer  soll  dich  Rirder  nicht  sehen, 
die  Stelle  der  Überfahrt  soll  dich  nicht  mehr  hinüber- 
lassen! Keinen  sterblichen  Menschen  sollst  du  mir 
wieder  übersetzen,  wenn  er  auch  lechzt  nach  meinen 
Gefilden!  -  Ein  schmutziges  Kleid  hat  der  Mensch, 
den  du  hierher  führtest,  am  Leibe.  Die  Felle  der  Tiere 
haben  dem  Leibe  die  Schönheit  genommen.  Geleite 
ihn,  Ur-Schanabi,  zur  Badestelle,  er  wasche  sich  rein  in 
den  Wassern,  er  werfe  ab  seine  Felle,  daß  sie  das  Meer 
davontrage!  Schön  soll  wieder  sein  Leib  erscheinen! 
Eine  neue  Binde  erhalte  sein  Haupt,  ein  Prachtgewand 
bekleide  den  Leib,  das  seine  Blößen  bedecke.  Bis  er 
wieder  zu  seiner  Stadt  kommt,  bis  er  heimkehrt  auf 
seinem  Wege,  soll  dies  Gewand  nicht  schleißen,  neu 
soll  es  sein  alle  Tage!" 

Da  nahm  Ur-Schanabi  ihn  mit  und  führte  ihn  hin 
zu  dem  Badeplatz;  er  wusch  sich  rein  in  den  Wassern, 
warf  seine  Felle  fort,  daß  sie  das  Meer  davontrug.  In 
neuer  Schönheit  strahlte  sein  Leib.  Eine  neue  Binde 
ward  um  das  Haupt  geschlungen,  mit  einem  Prachtge- 
wande  ward  er  bekleidet,  das  seine  Blößen  bedeckte. 
Bis  er  wieder  zu  seiner  Stadt  hinkäme,  bis  er  heimge- 
kehrt sei  auf  seinem  Wege,  sollte  dieses  Gewand  nicht 
schleißen,  neu  sollte  es  bleiben  alle  Tage! 

Gilgamesch  und  Ur-Schanabi  bestiegen  das  Schiff, 
sie  brachten  es  auf  die  Flut;  schon  fuhren  sie  ab.  Da 
sagt  sein  Weib  zu  ihm,  zu  Utnapischtim,  dem  Fernen: 

57 


„Gilgamesch  ist  gegangen,  er  hat  sich  abgemüht  und 
viele  Qualen  erduldet.  Was  willst  du  ihm  geben,  daß 
er  glücklich  zur  Heimat  gelange?" 

Gilgamesch  hört  das  Wort,  ergreift  die  Schiffstange 
und  stößt  das  Boot  wieder  näher  ans  Ufer.  Utnapisch- 
tim  spricht  zu  ihm,  zu  dem  Gilgamesch : 

„Gilgamesch,  du  bist  gegangen,  du  hast  dich  abge- 
müht und  viele  Qualen  erduldet.  Was  soll  ich  dir 
geben,  daß  du  glücklich  zur  Heimat  gelangst?  -  Ich 
will  dir  ein  Geheimnis  verraten,  von  einem  verborgenen 
Wunderkraut  will  ich  dir  Kunde  geben.  Das  Kraut 
sieht  aus  wie  ein  Stech  dorn  und  wächst  tief  unten  im 
Meere,  sein  Dorn  ist  wie  eine  Stachel  des  Stachel- 
schweins, es  blüht  im  fernen  Süßwassermeer.  Wenn 
du  dies  Kraut  in  deine  Hände  bekommst  und  davon 
ißt,  so  wirst  du  ewige  Jugend  und  Leben  finden." 

Gilgamesch  vernahm  seine  Worte.  Und  sie  fuhren 
weit  hinweg  über  das  Meer. 

Sie  waren  ins  ferne  Süßwassermeer  gekommen.  Da 
löste  er  seinen  Gürtel,  warf  das  Oberkleid  ab,  schwere 
Steine  band  er  an  seine  Füße.  Die  zogen  ihn  tief  ins 
Weltmeer  hinab,  da  sah  er  ein  Kraut  gleich  einem 
Stechdorn.  Er,  er  nahm  das  Kraut  und  hielt  es  fest  in 
der  Hand,  schnitt  ab  die  schweren  Steine  und  tauchte 
auf  bei  dem  Schiffe.  Er  stieg  zur  Seite  des  Schiffers 
ins  Boot  und  hielt  die  Wunderblume  des  Meeres  in 
Händen. 

Gilgamesch  spricht  zu  Ur-Schanabi,  dem  Schiffer: 

„Ur-Schanabi,  hier  hab  ich  das  Kraut!  Es  ist  ein 
Kraut,  das  Leben  verheißt!  Des  Menschen  heißes  Be- 
gehren wird  nun  erfüllt,  die  Vollkraft  der  Jugend  wird 
ihm  erhalten.  Ich  will  es  nach  meinem  festummauerten 

58 


Uruk  bringen,  ich  will  alle  Helden  essen  lassen  davon, 
unter  viele  will  ich  es  teilen.  Der  Name  der  Pflanze 
ist  ,Als  Greis  wird  der  Mensch  wieder  jung*.  Ich,  ich 
will  davon  essen  und  zur  vollen  Kraft  meiner  Jugend 
wieder  gelangen.** 

Zwanzig  Doppelstunden  fuhren  sie  weiter  und  sahen 
ein  Stückchen  Land.  Nach  dreißig  Stunden  landeten 
sie  und  machten  Rast.  Gilgamesch  sah  einen  Teich, 
kühl  und  erfrischend  w^ar  sein  Wasser;  er  stieg  hinein 
und  badete  in  der  schönen  Kühle.  Es  roch  eine 
Schlange  den  Duft  des  Krautes;  sie  schlich  sich  heran 
und  nahm  das  Kraut.  -  Er  kommt  wieder  und  stößt 
einen  Fluch  aus.  Und  Gilgamesch  setzt  sich  nieder 
und  weint,  über  sein  Antlitz  rinnen  die  Tränen  nieder. 
Er  sieht  in  die  Augen  des  Ur-Schanabi,  des  Schiffers: 

„Für  wen,  Ur-Schanabi,  haben  sich  abgemüht  meine 
Arme?  Für  wen  lasse  ich  das  Blut  meines  Herzens  kreisen 
und  rinnen?  Ich  wirkte  und  nicht  für  mich  selbst  kam 
Gutes  heraus,  für  den  kriechenden  Wurm  der  Erde 
habe  ich  Gutes  getan!  Das  Kraut  hat  mich  auf  dem 
Meere  geleitet;  wir  wollen  nun  die  Meeresflut  und  die 
Ströme  meiden,  das  Schiif  mag  liegen  bleiben  am  Ufer.** 

Zwanzig  Doppelstunden  zogen  sie  weiterund  sahen 
ein  Stückchen  vom  Tempelturme.  Nach  dreißig  Dop- 
pelstunden machten  sie  Rast  und  hoben  die  Augen 
auf  zu  der  Stadt  mit  dem  heiligen  Tempel.  Sie  kamen 
hinein  nach  Uruk,  in  die  Stadt  mit  den  hohen  Mauern. 

Gilgamesch  sagt  zu  ihm,  zu  Ur-Schanabi,  dem  Schiffer: 

„Steige  hinauf  auf  die  Mauer,  Ur-Schanabi!  Geh 
einher  auf  der  Mauer  von  Uruk,  der  stark  umfriedigten 
Stadt!  Siehe,  wie  fest  sie  gegründet  ist,  hoch  aufge- 
schüttet der  Tempelberg,  sieh    die  gewaltigen  Bau- 

59 


werke  an,  aus  Ziegelsteinen  sind  sie  errichtet,  und  alle 
die  Ziegel  wurden  gebrannt!  Die  sieben  klugen  Mei- 
ster, meine  Berater,  legten  die  Pläne  mir  hin.  -  Ein 
Grundstück  im  Gebiete  der  Stadt,  ein  Gartenland,  ein 
Frauengemach  soll  dir  gehören,  in  Uruk  sollst  du  dein 
Haus  dir  bauen!" 

Die  zwölfte  Tafel 

Gilgamesch  waltet  in  Uruk,  der  Stadt  mit  den  hohen 
Mauern.  Seine  Ruhe  findet  er  nicht.  Er  läßt  die 
Zauberpriester  und  Totenbeschwörer  kommen: 

„Beschwöret  Enkidus  Geist  herauf!  Sagt  mir,  wie 
ich  Enkidus  Schatten  erblicken  kann!  Ich  will  ihn  nach 
dem  Schicksal  der  Toten  fragen !" 
Der  Älteste  unter  den  Priestern  sprach: 
„Gilgamesch,  wenn  du  zur  Unterwelt  steigen  willst, 
zu  der  Behausung  des  großen  Gottes  der  Toten,  so 
mußt  du  im  schmutzigen  Kleide  kommen.  Mit  feinem 
Öl  darfst  du  dich  nicht  salben,  sonst  werden,  von  sei- 
nem Dufte  gelockt,  dich  unerwünschte  Geister  um- 
schwirren. Den  Bogen  darfst  du  nicht  zur  Erde  setzen, 
sonst  werden  dich  alle  umringen,  die  von  dir  zu  Tode 
getroffen  wurden.  Das  Zepter  darfst  du  nicht  in  der 
Hand  behalten,  sonst  werden  die  Totengeister  alle 
verscheucht.  Schuhe  darfst  du  nicht  an  den  Füßen 
haben,  nur  ganz  leise  darfst  du  gehen.  Dein  Weib,  das 
du  liebst,  darfst  du  nicht  küssen,  dein  Weib,  das  du 
nicht  magst,  darfst  du  nicht  schlagen.  Dein  Kind,  das 
du  Hebst,  darfst  du  nicht  herzen,  dein  Kind,  das  du 
nicht  magst,  darfst  du  nicht  strafen,  sonst  wird  dich  der 
Jammer  der  Leute  unter  der  Erde  stören." 

60 


Gilgamesch  wandert  zur  großen  Wüste,  zu  den 
Pforten  der  Unterwelt.  Er  kommt  an  die  düstere 
Wohnung  Irkallas:  zu  der  Behausung  lenkt  er  die 
Schritte,  da  nicht  hinauskommt,  wer  einmal  hineinging; 
den  Weg  ging  er,  den  Weg  ohne  Umkehr,  zu  der 
Behausung,  deren  Bewohner  das  Licht  entbehren.  Erd- 
staub ist  ihre  Nahrung,  Lehm  ihre  Speise.  Sie  sehen 
kein  Licht  und  sitzen  in  Finsternis.  Mit  Federn  sind 
sie  bekleidet  und  tragen  Flügel  wie  Vögel. 

Er  pocht  ans  Tor  und  spricht  zum  Pförtner  die  Worte: 

„Heda!  Pförtner,  öffne  dein  Tor,  daß  ich  eintreten 
kann !  Wenn  du  dein  Tor  nicht  auftust,  zerschmeiß  ich 
die  Tür,  zerbrech  ich  die  Riegel!" 

Der  Pförtner  öffnete  ihm  das  erste  Tor  und  nahm 
ihm  den  Mantel  ab,  durch  sieben  Tore  führte  er  ihn, 
nahm  alle  Kleider  ihm  ab,  daß  er  nackend  das  Reich 
der  Toten  betrete.  Er  trat  vor  die  große  Göttin  Eresch- 
kigal  und  sprach: 

„Laß  Enkidu,  meinen  Freund,  zu  mir  kommen,  daß 
ich  ihn  nach  dem  Geschicke  der  Toten  frage!" 

Doch  der  Aufpasser  und  Zuriegler  der  Göttin  hielt 
den  Toten  fest,  die  Göttin  ließ  ihn  nicht  los.  Die  hehre 
Ereschkigal  sprach  zu  Gilgamesch  also: 

„Kehre  wieder  zurück!  Du  kannst  den  Toten  nicht 
sehen.  Es  hat  dich  keiner  hierher  gerufen."  - 

Traurig  stieg  er  hinauf,  nahm  seine  Kleider  und 
schritt  durch  die  sieben  Tore.  Er  kam  an  ein  tiefes 
Wasser  und  flehte  zu  Ea,  dem  weisen  Gotte  der  Tiefe: 

„Sende  mir  Enkidus  Schatten  herauf!  Die  Unter- 
welt hält  ihn  fest." 

Der  Vater  der  Tiefe  hörte  sein  Wort  und  sprach 
zum  gewaltigen  Nergal,  dem  Herrscher  der  Toten: 

6i 


„öffne  sogleich  ein  Loch  in  der  Erde!  Führe  Enki- 
dus Geist  herauf,  daß  er  zu  seinem  Bruder  Gilgamcsch 
rede!" 

Als  der  gewaltige  Nergal  dies  hörte ,  öffnete  er  so- 
gleich ein  Loch  in  der  Erde  und  führte  Enkidus  Schat- 
ten herauf  Sie  erkannten  sich  beide  und  blieben  ein- 
ander ferne.  Sie  redeten  miteinander.  Gilgamesch  rief, 
und  Antwort  bebte  der  Schatten;  Gilgamesch  tat  seinen 
Mund  auf  und  sprach: 

„Rede,  mein  Freund!  Rede,  mein  Freund!  Das  Ge- 
setz der  Erde,  die  du  sahst,  verkünde  mir  jetzt!" 

„Ich  kann  es  dir  nicht  sagen,  Freund,  ich  kann  es  dir 
nicht  sagen.  Künde  ich  dir  das  Gesetz  der  Erde,  die 
ich  schaute,  so  wirst  du  dich  hinsetzen  und  weinen." 

„So  will  ich  mich  hinsetzen  alle  Tage  und  weinen!" 

„Siehe,  den  Freund,  den  du  anfaßtest,  daß  dein  Herz 
sich  freute,  den  fressen  die  Würmer  gleichwie  ein  altes 
Gewand.  Enkidu,  der  Freund,  den  deine  Hand  berührte, 
ist  wie  die  Lehmerde  worden,  er  ist  voll  Erdstaub,  in 
den  Staub  sank  er  hin,  zu  Staub  ist  er  worden." 

Gilgamesch  wollte  noch  weiter  fragen,  da  verschwand 
der  Schatten  Enkidus. 

Gilgamesch  kehrte  zurück  nach  Uruk,  der  Stadt  mit 
den  hohen  Mauern.  Hoch  erhebt  sich  der  Tempel 
des  heiligen  Berges. 

Gilgamesch  legte  sich  nieder  zu  schlafen,  und  ihn 
packte  der  Tod  in  der  schimmernden  Halle  seines 
Palastes, 


63 


Nachwort 

Der  Stoff  des  sogenannten  Gilgamesch-Epos  ist  nur 
in  Keilschriftbruchstücken  erhalten;  sie  fanden 
sich  zumeist  bei  den  Ausgrabungen  in  Kujundschik, 
dem  einstigen  Ninive,  als  Bestandteil  einer  großartigen 
Tontafelbibliothek  des  Assyrerkönigs  Assurbanipal. 
Der  Kern  der  Sage  ist  uralt.  Von  Assyriologen  wurden 
die  Fragmente  entziffert  und  philologisch  getreu  um- 
geschrieben und  übersetzt.  Wer  ein  wissenschaftliches 
Interesse  an  dem  Stoffe  hat,  sei  auf  die  grundlegenden 
Werke  von  P.Jensen  (Assyrisch-babylonische  Mythen 
und  Epen,  Berlin  1900,  und  Das  Gilgamesch-Epos, 
Stra{3burg  1906),  ferner  auf  die  neuere  Übersetzung 
von  A.  Ungnad  mit  den  Erklärungen  von  H.  Greß- 
mann  (Göttingen  191 1)  hingewiesen.  Diese  verdienst- 
lichen Bücher  müssen  aber  regelrecht  studiert  und 
können  nicht  einfach  gelesen  oder  gar  vorgelesen  wer- 
den; denn  sobald  der  Faden  der  Erzählung  spannend 
wird,  heißt  es  gewöhnlich  „große  Lücke",  abgesehen 
von  all  den  kleinen  Lücken,  die  nur  sehr  mittelbar  eine 
Freude  am  Ganzen  aufkommen  lassen,  jedenfalls  den 
einheitlichen  Zusammenhang  zerstören.  Das  Ganze 
aber  ist  zu  ahnen. 

Es  mag  bedauert  werden,  daß  diese  Dichtung,  die  in 
ihrer  grandiosen  Einfachheit  zu  den  bedeutendsten 
Werken  der  Weltliteratur  gerechnet  werden  darf,  den 
nicht-zünftigen  Gebildeten  so  wenig  bekannt  ist.  Der 
Gilgamesch  wird  auch  erst  eingeschätzt  und  gewürdigt 
werden,  wenn  der  historische  Stoff,  wie  Nietzsche  sich 
ausdrückt,  im  monumentalen  Sinne  gebraucht  wird, 
d.  h.  mit  größter  Freiheit  der  Phantasie  zu  einer  ein- 

63 


heitlichen  Form  umgeschmiedet  ist.  So  geht  die  hier 
versuchte  Gestaltung  zu  einem  Ganzen  von  einem  rein 
künstlerischen  Interesse  am  Stoffe  aus.  Wer  sich  histo- 
risch und  antiquarisch  mit  dem  Gilgamesch  beschäf- 
tigen will,  der  greife  lieber  zu  den  oben  genannten 
Büchern. 

Was  die  Sprache  angeht,  die  ich  in  diesem  Gilga- 
mesch gesprochen  habe,  so  ist  nach  Möglichkeit  der 
aus  der  Luther-Bibel  bekannte  Rhythmus  des  Parallelis- 
mus der  Glieder  beibehalten,  ohne  jedoch  der  Eigen- 
art einer  deutschen  „Umdichtung"  Gewalt  anzutun. 
(Der  starke  Wechsel  der  sog.  Tempora  ist  mit  Absicht 
beibehalten  worden.)  Daß  ich  mich  in  altorientalische 
Sprache  und  Kultur  „eingefühlt"  habe,  wird  dem  Kun- 
digen nicht  entgehen.  Wer  das  wortgetreue  Gilga- 
mesch-Epos  kennen  lernen  will,  dem  ist  auch  durch 
eine  Übersetzung  der  Bruchstücke  nicht  geholfen. 
Jede  Verdeutschung  macht  schon  aus  dem  Original  ein 
neues  Werk. 

Für  alle  Menschen,  die  unbefangene  Freude  an  dem 
alten  und  ewig  jungen  Spiel  der  Phantasie  haben,  ist 
diese  Erzählung  geschrieben.  In  Werken  der  Phan- 
tasie nur  ist  Erlösung  vom  Leiden. 

Burckhardt. 


Druck  der  Spamerschen  Buchdruckerei  in  Leipzig 


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